Punktlandung

Germanwings 9525: tödliche Sicherheit

Am 24. März 2015 erschütterte das wahrscheinlich schwerste Unglück in der Geschichte ihres Bestehens die AUA-Konzernmutter Lufthansa: Ein nach den bisherigen Erkenntnissen psychisch kranker Pilot steuerte einen A320 der Billigflugtochter Germanwings mutmaßlich in suizidaler Absicht gegen einen Berg und riss dabei 149 unschuldige Menschen, unter ihnen zwei Babys, mit ins Verderben. Dabei hätte das Unglück wahrscheinlich vermieden werden können, Austrian Wings hatte bereits im Mai des vergangenen Jahres - übrigens auf Anregung von Piloten selbst - vor dem potentiell tödlichen Risiko der seit 9/11 hermetisch verriegelten Cockpittüren gewarnt. Eine Punktlandung aus aktuellem Anlass.

Wenn sich die bisherigen Analysen der Ermittler, basierend auf der Auswertung des Cockpit Voice Recorders der Unglücksmaschine, bewahrheiten sollten, dann hat sich das Drama von Flug Germanwings 9525 wie folgt abgespielt: Nach Erreichen der Reiseflughöhe von 38.000 Fuß verließ der Kapitän das Cockpit, mutmaßlich um die Toilette aufzusuchen. Unmittelbar darauf verriegelte der im Flugdeck verbliebene Erste Offizier Andreas Lubitz - offenbar seit Jahren psychisch krank und dennoch für flugtauglich befunden (hier dürften sich der fliegerärztliche Dienst der Lufthansa sowie die den Mann behandelnden Mediziner noch einige unangenehme Fragen gefallen lassen müssen) - die Türe zum Cockpit von innen mittels eines Schalters.

Mit diesem Schalter - hier eine Aufnahme aus dem Simulator - im Cockpit des A320 verriegelte Erster Offizier Andreas Lubitz nach vorläufigem Erkenntnisstand die Cockpittüre hermetisch, sodass es für den Kapitän keine Möglichkeit gab, mehr ins Cockpit
Mit diesem Schalter - hier eine Aufnahme aus dem Simulator - im Cockpit des A320 verriegelte Erster Offizier Andreas Lubitz nach vorläufigem Erkenntnisstand die Cockpittüre hermetisch, sodass es für den Kapitän keine Möglichkeit mehr gab, ins Cockpit zu gelangen. Insider und Austrian Wings hatten vor dieser Gefahr bereits vor rund einem Jahr ungehört gewarnt, nachdem in Afrika der Flugkapitän eines Embraer Jets auf genau die gleiche Weise Selbstmord begangen hatte.

Dies war das Todesurteil für die 150 Menschen an Bord des A320. Denn als nächstes programmierte der Pilot einen Sinkflug mit fast 4.000 Fuß Sinkrate pro Minute und steuerte das Flugzeug ins Verderben, während der Kapitän von außen verzweifelt versuchte ins Cockpit zu gelangen, zunächst über Eingabe des Codes, dann durch den Einsatz der Notfallaxt - vergeblich, seit 9/11 sind Cockpittüren buchstäblich todsicher.

Nach Bekanntwerden dieser vorläufigen Fakten, stellen sich Fachleute und die Öffentlichkeit die gleiche Frage: Hätte das Unglück verhindert werden können?

Der Autor dieser Zeilen ist der Meinung, dass dies möglich gewesen wäre und bekommt dabei hinter vorgehaltener Hand auch Unterstützung aus dem Pilotencorps.

Hermetisch abgeriegelte Cockpittüren überhaupt noch zeitgemäß?

Wären Gesetzgeber und Airlines nach dem 11. September nicht in eine derartige Paranoia verfallen, die erst dazu beigetragen hat, dass Cockpittüren von außen unter gar keinen Umständen mehr geöffnet werden können, sobald im Cockpit der Lock-Schalter umgelegt wird, hätte die Crew die Türe zum Flugdeck mittels roher Gewalt aufbrechen können. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der lebensmüde Erste Offizier dann überwältigt werden hätte können und die 149 unschuldigen Opfer dieser Tragödie heute noch am Leben wären. Absolut einbruchssichere Cockpittüren sind nach Ansicht vieler Brancheninsider nämlich gar nicht mehr notwendig, weil durch die am Boden verstärkten Sicherheitsmaßnahmen das Risiko, dass ein Attentäter überhaupt an Bord kommt, minimiert wurde. Darüber hinaus ist die Awareness der Crew und der Passagiere entsprechend geschärft. Galt früher die Devise, mit Entführern zu kooperieren, so heißt es heute, sie auszuschalten. In mehreren Fällen der jüngeren Vergangenheit wurden Entführer, oder Personen, die man dafür hielt, von der Crew und/oder engagierten Passagieren unschädlich gemacht, noch bevor sie überhaupt ins Cockpit hätten eindringen können. Dazu kommt weiters, dass ein Teil der Flüge auch von bewaffneten Sicherheitskräften, so genannten Sky Marshals begleitet wird.

"Das eigentliche Problem ist meiner Meinung nach, dass wir uns in Europa nach 9/11 von der Paranoia der USA haben anstecken lassen, anstatt ruhig und sachlich zu überlegen, wie man die Sicherheit verbessern kann, ohne gleichzeitig zusätzliche Risiken zu erschaffen."

Ein Lufthansa-Pilot gegenüber Austrian Wings

Eine andere Maßnahme, welche zumindest die Überlebenschancen der Insassen von Flug 4U 9525 erhöht hätte, wäre die Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Cockpit gewesen. Bei dieser in den USA seit Jahren verpflichtenden Maßnahme muss ein Mitglied der Kabinenbesatzung ins Cockpit kommen, sobald einer der Piloten das Flugdeck verlässt. Die Anwesenheit einer zweiten Person hätte womöglich die Hemmschwelle des Ersten Offiziers erhöht (worauf auch hindeutet, dass er mit seinem Suizid extra gewartet hat, bis der Kapitän das Cockpit verlassen hatte) und andererseits hätte eine Flugbegleiterin blitzschnell die Cockpittüre öffnen und um Hilfe rufen können, wenn Lubitz den tödlichen Sinkflug trotz ihrer Anwesenheit eingeleitet hätte.

Doch in Europa ist dieses "Vier-Augen-Prinzip" nicht verpflichtend vorgeschrieben, es bleibt den Airlines selbst überlassen, ob es angewendet wird oder nicht. Eine der wenigen europäischen Airlines, bei der es schon seit Jahren Standard ist, ist Ryanair. In den Stunden nach Bekanntwerden der dramatischen Fakten über den Absturz teilte rund ein Dutzend Airlines mit, dass künftig immer mindestens zwei Besatzungsmitglieder im Cockpit sein müssen.

"Ich bin nicht glücklich darüber, dass die Piloten jetzt quasi unter Generalverdacht gestellt und von Flugbegleitern mehr oder weniger 'überwacht' werden, aber scheinbar gibt es derzeit keine andere Möglichkeit."

Der gleiche Lufthansa-Pilot

Lufthansa und AUA zögerlich

Erstaunlicherweise waren die vom Absturz betroffene Lufthansa und ihre Österreich-Tochter AUA nicht darunter. Hier schwadronierten Vorstand und Pressesprecher zunächst noch vom "behördlich genehmigten System", das sich "bewährt" habe und von "strengen Pilotenselektionen" als ausreichende Sicherheitsmaßnahmen. Diese wunderschön vorgetragenen Phrasen haben nur einen - entscheidenden - Haken: Auch der mutmaßliche Selbstmordpilot war streng selektiert und blieb, selbstverständlich behördlich genehmigt, unbeaufsichtigt alleine im Cockpit zurück.

Dem Weg ins Cockpit geht eine strenge Selektion voraus; regelmäßige psychologische Checks gibt es danach aber nicht mehr: "Eine gefährliches Sicherheitsrisiko", sagen viele Piloten.
Dem Weg ins Cockpit geht eine strenge Selektion voraus; regelmäßige psychologische Checks gibt es danach aber nicht mehr: "Ein gefährliches Sicherheitsrisiko", warnt so mancher Pilot.

Am Nachmittag des 27. März ruderten dann der Kranich und seine Österreich-Tochter AUA zurück - nun gilt auch dort das "Vier-Augen-Prinzip" im Cockpit. Für die 149 unschuldigen Todesopfer von Germanwings 9525 kam dieser Entschluss leider zu spät.

"Wir begrüßen die rasche Einführung des Vier-Augen-Prinzips im Cockpit. Es bietet eine erste Möglichkeit, auf die Gefahren derart tragischer Unglücke zu reagieren. Wir dürfen jetzt aber keinen Generalverdacht gegenüber allen Besatzungsmitgliedern aufkommen lassen."

lja Schulz, Präsident der Vereinigung Cockpit

"Die ACA als Verband Österreichischer Verkehrspiloten lehnt jede pauschale Verdächtigung unseres Berufsstandes aufs Schärfste ab. Warum in Österreich in Bezug auf über 1000 Verkehrspiloten, die 365 Tage und Nächte im Jahr seriöse Arbeit leisten, plötzlich ‘Gefahr im Verzug’ ist, können wir nicht nachvollziehen. Das behördlich verfügte ‘Vier-Augen Prinzip’  erscheint in einer ACA Risikobeurteilung auch nicht ohne Nachteile!"

Peter Beer, Präsident der ACA

Kritik an Öffentlichkeitsarbeit des Lufthansa-Konzerns

Überhaupt muss sich die Lufthansa, auch wenn man ihr zugute hält, dass ein solcher Fall enorm schwer abzuhandeln ist, deutliche Kritik an ihrer Medienarbeit gefallen lassen. Selbst als die französischen Behörden am 24. März 2015 den Absturz der Germanwings-Maschine offiziell bestätigten, als Piloten und Mitarbeiter des Lufthansa-Flugbetriebes unsere Redaktion telefonisch und per E-Mail von dem Unglück in Kenntnis setzten, ja sogar dann noch als uns das Kennzeichen der verunglückten Maschine bekannt war, wurden Medienschaffende höflich aber bestimmt vertröstet: "Wir können einen Absturz weder bestätigen noch dementieren, rufen Sie bitte später wieder an." Dieses (Trauer-) Spiel wiederholte sich bis 14 Uhr, obwohl der Absturz spätestens um 12:30 Uhr selbst für die Öffentlichkeit als gesichert anzusehen war. Die Arbeit der Lufthansa-Pressestelle verbesserte sich auch in den folgenden Tagen nicht merklich, denn als die New York Times bereits die Inhalte des Cockpit Voice Recorders unter Berufung auf Ermittlerkreise öffentlich gemacht hatte, wollten die Lufthansa sowie die Ermittler diese Erkenntnisse nicht bestätigen und verkauften Journalisten öffentlich für dumm, als sie erklärten, man habe die Aufnahmen noch nicht ausgewertet - um einen Tag später kleinlaut zuzugeben, was mittlerweile die ganze (Medien-) Welt bereits wusste: Nämlich, dass die bisherigen Indizien auf einen Suizid des Piloten und damit einhergehenden 149-fachen "Mord" hindeuteten.

"In diesen dunklen Stunden gilt unsere ganze Aufmerksamkeit der emotionalen Betreuung der Angehörigen und Freunde der Opfer von Flug 9525. Das Leid, das diese Katastrophe verursacht hat, ist unermesslich. Dafür gibt es keine Worte und keinen Trost."

Germanwings-Geschäftsführer Thomas Winkelmann

Und dann verweigerte Lufthansa-Boss Carsten Spohr auch noch Angaben zu den Hintergründen, weshalb der Erste Offizier seine Flugausbildung (angeblich mehrfach) unterbrochen hatte. Es waren deutsche Medien in Ausübung ihrer Kontrollfunktion als vierte Macht im Staate, die aufdeckten, dass vermutlich psychische Probleme die Ursache für die Ausbildungsunterbrechung waren. Und am 27. März gab die Staatsanwaltschaft Düsseldorf schließlich öffentlich bekannt, dass der Erste Offizier zum Unglückszeitpunkt krankgeschrieben war, dies seinem Arbeitgeber aber nicht gemeldet hatte. Die "Süddeutsche" hatte recherchiert, dass die Krankschreibung wahrscheinlich durch einen Psychiater erfolgt war, Lubitz sie jedoch zerrissen hatte, vermutlich, weil er bei korrekter Meldung "längere Zeit nicht hätte fliegen dürfen", so das Blatt.

"Lufthansa und AUA hätten viel schneller reagieren und das Vier-Augen-Prinzip sofort nach Bekanntwerden der Selbstmordthese umsetzen müssen. Diese Verzögerung ist verantwortungslos."

Ein Passagier gegenüber Austrian Wings

Einen weiteren Fauxpas leistete sich Lufthansa-Chef Carsten Spohr, als er noch am 26. März in einer Pressekonferenz erklärte, wie weiter oben bereits erläutert, dass sich das bisherige Sicherheitssystem im Cockpit "bewährt" habe - zu einem Zeitpunkt als andere Airlines bereits per Presseaussendung ankündigten, auf das "Vier-Augen-Prinzip" umzustellen. Wenn dann der Chefredakteur einer großformatigen österreichischen Tageszeitung allen Ernstes in einem Leitartikel die "Krisen-PR" der Lufthansa als "vorbildlich" lobt, dann muss die Frage erlaubt sein, wie gründlich der ansonsten sehr geschätzte Kollege hier überhaupt recherchiert hat.

Lob für Angehörigenbetreuung

Ausgesprochen gute Arbeit dürfte dagegen die Emergency Response Organisation der Lufthansa leisten, die auch von Kollegen der AUA unterstützt wird, sowohl was die telefonische Betreuung von Angehörigen der Getöteten als auch die Betreuung der Familienmitglieder vor Ort betrifft - hier war bis dato noch kein negatives Wort zu hören. Und auch finanziell lässt der Kranich die Angehörigen der 150 Toten nicht im Regen stehen: Lufthansa überwies umgehend 50.000 Euro als Soforthilfe. Ein großes Lob für diese Professionalität!

Zwei Pilotenselbstmorde in weniger als zwei Jahren schreien förmlich nach Konsequenzen

Sollten sich die bisherigen Erkenntnisse über den Unglückshergang tatsächlich im Wesentlichen bestätigen, müssen Behörden und Airlines handeln. Es kann und darf nicht sein, dass eine Person alleine mit einem einzelnen Schalter im Cockpit über Leben und Tod hunderter Passagiere entscheiden kann. Entweder muss man eine Lösung finden, wie eine von innen verriegelte Türe doch von außen geöffnet werden kann (was vor 9/11 möglich war) oder die nun medienwirksam eingeführte - und zweifellos sinnvolle - Anwendung des "Vier-Augen-Prinzips" im Cockpit muss dauerhaft beibehalten werden, nicht nur wenige Wochen, bis die Aufmerksamkeit der Medien nachlässt.

Symbolbild Cockpittüre
Symbolbild Cockpittüre

"Wirklich einfach ist die Umsetzung des Vier-Augen-Prinzips nicht, weil unsere Flugbegleiter jetzt immer, wenn ich auf die Toilette muss, das Service unterbrechen müssen."

Ein Verkehrspilot

"Ich fliege seit einigen Jahren auf dem Muster Fokker 70/100. Weil es dort keine Kamera vor der Cockpittüre gibt, ist das Vier-Augen-Prinzip bei uns seit jeher Standard, ich kenne es gar nicht anders und finde es sehr sinnvoll. Nach dem Germanwings-Absturz bin ich froh, dass es jetzt konzernweit eingeführt wird. Man fühlt sich wirklich sicherer."

Eine Flugbegleiterin der Austrian Airlines gegenüber Austrian Wings

Es gibt Anzeichen für Selbstmordtendenzen

Außerdem muss eine jetzt auch von der IATA geforderte regelmäßige psychologische Untersuchung zusätzlich zu den bereits jetzt vorgeschriebenen halbjährlichen medizinischen Checks für Berufspiloten verpflichtend eingeführt werden. Wobei letztere auch kein Allheilmittel sein kann, wie Experten zu bedenken geben. Denn 100-prozentige Sicherheit kann und wird es niemals geben, man kann nur versuchen, das Risiko eines solchen Selbstmordes so weit wie irgend möglich zu minimieren. Und für "Suizidalität gibt es gewisse Indikatoren", wie Prof. Dr. med. Rainer Hellweg von der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité festhält.

Fast 200 Opfer klagen an

Am besten wäre es freilich, alle drei Maßnahmen zu kombinieren, aber schon jede für sich wäre eine Verbesserung zum bisherigen Status quo. Nach zwei Pilotenselbstmorden innerhalb von weniger als zwei Jahren, bei denen die nach den bisherigen Erkenntnissen offensichtlich psychisch kranken Flugzeugführer unschuldige Passagiere und Crewmitglieder mit in den Tod rissen, muss man leider konstatieren, dass die nach 9/11 eingeführten hermetisch abriegelbaren Cockpittüren mittlerweile nachweislich zum Tod von fast 200 unschuldigen Menschen beigetragen haben. Dagegen gibt es keinerlei handfesten Beweis dafür, dass auch nur ein einziges Menschenleben durch diese Türen tatsächlich gerettet wurde. Eine bittere Bilanz, die zum Nachdenken anregen sollte.

Und genau deshalb muss nun jedenfalls rasch gehandelt werden, das ist das Gebot der Stunde. Ansonsten ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich der nächste psychisch kranke oder religiös fanatisierte Pilot im Cockpit einsperrt und sein Flugzeug als Waffe missbraucht, um seinem und dem Leben aller Insassen ein Ende zu setzen. Aber dann möge bitte niemand sagen, er sei nicht rechtzeitig gewarnt gewesen.

(HP / Titelbild: Facebook / Alle übrigen Fotos: Austrian Wings Media Crew)

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.