Punktlandung

El Megrahi - das Bauernopfer der Lockerbie Tragödie?

Am 21. Dezember 1988 explodierte an Bord von Flug Pan Am 103, einer Boeing 747-121, mit dem Kennzeichen N739PA eine Bombe. Die Maschine zerbrach noch in der Luft und stürzte ab, wobei alle 259 Menschen an Bord und 11 Einwohner der schottischen Ortschaft Lockerbie starben. Nur ein Mann, der lybische Geheimagent Abdel Bassit Ali Mohammed el Megrahi wurde für die Tat verantwortlich gemacht und zu lebenslanger Haft verurteilt – doch vieles spricht für einen Justizirrtum, oder, schlimmer noch, einen politisch motivierten Prozess, in dem ein Unschuldiger zum Sündenbock gemacht wurde. Eine Austrian Wings Punktlandung aus aktuellem Anlass.

Die Unglücksmaschine “Maid of the Seas” in London Heathrow, aufgenommen am 01. Januar 1988, 11 Monate und 20 Tage vor dem Absturz - Foto: Alastair T. Gardiner (many thanks for the permission to to use this picture!)

Die Heimkehr
Am 20. August 2009 wurde der an Prostatakrebs im Endstadium leidende Abdel Bassit Ali Mohammed el Megrahi aus der Haft in Schottland entlassen und durfte in seine Heimat Lybien zurück kehren – aus humanitären Gründen, “um zu sterben”, wie es hieß.

Der schwerkranke Megrahi bei seiner Ankunft in Libyen - Quelle: Youtube

Keineswegs bedeute seine Freilassung das Eingeständnis eines Justizirrtums – dies wurde von offizieller schottischer Seite immer wieder bekräftigt. Hillary Clinton, Außenministerin der USA und einige Angehörige von Lockerbieopfern – ebenfalls vornehmlich aus den Vereinigten Staaten - kritisierten diesen Schritt, tatsächlich war er allerdings längst überfällig, denn Megrahi konnte nach allem, was bisher über den Fall bekannt geworden war, keinesfalls der (alleinige) Attentäter gewesen sein. Doch der Reihe nach.

Verurteilung trotz Umgereimtheiten und Beweisfälschung

Nach jahrelangem Streit um seine Auslieferung an die britischen Behörden, zu der Lybien aufgrund von Sanktionen mehr oder weniger genötigt worden war, wurde der Angeklagte im Jahr 2001 schließlich von einem schottischen Gericht in den Niederlanden für schuldig befunden, das Attentat auf Pan Am 103 geplant und durchgeführt zu haben und zu lebenslanger Haft verurteilt, während ein zweiter Angeklagter freigesprochen wurde.

Doch schon während des Verfahrens mehrten sich die Zweifel an seiner Schuld – Beweismaterial wurde dem Gericht unterschlagen und der zentrale Belastungszeuge, der maltesische Händler Gauci, bei dem die Kleidung, die sich in dem Koffer mit der Bombe befunden hatte, gekauft worden war, erschien äußerst unglaubwürdig. So wurde ihm beispielsweise ein Zeitungsfoto von jenem Mann gezeigt, den er später als Käufer der betreffenden Kleider identifizierte – El Megrahi. Ein in einem Rechtsstaat eigentlich unhaltbares Vorgehen. Außerdem hatte er zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Männer als angebliche Käufer der Kleidungsstücke identifiziert.

Schon während des Prozesses mehrten sich die Zweifel an der Schuld von El Megrahi

Auch der Chef der Schweizer Firma Mebo, aus deren Fertigung angeblich Elektronikteile der Bombe stammten, versuchte vor Gericht darzulegen, dass die gefundenen Teile nicht aus jener Lieferung stammten, die an Lybien gegangen war. Das Gericht ignorierte seine Aussage schlichtweg. Solche und ähnliche Vorgänge zogen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Verfahren, an dessen Ende die Verurteilung Megrahis stand, die er selbst stets als „Schande“ bezeichnete.

Dr. Hans Köchler, der das Verfahren für die Vereinten Nationen beobachtete, sprach angesichts dieses Prozesses, welcher bestenfalls einer totalitären Diktatur, nicht jedoch eines modernen demokratischen Rechtsstaates würdig war, von einem glatten „Fehlurteil“ und von einem „politisch motivierten“ Ablauf.

Wörtlich sagte er dazu in einem aktuellen Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ unter anderem:

„Wenn dieses Urteil jemand bei mir als Seminararbeit eingereicht hätte, dann wäre das ein Nichtgenügend gewesen, wegen Inkonsistenz des ganzen Argumentes.“

Dr. Hans Köchler, UN-Prozessbeobachter im Lockerbie Verfahren

Und genau das war es nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse wohl auch, ein politisch motiviertes Fehlurteil – die Spuren, die nach Syrien, Palästina oder den Iran führten, wurden, obwohl überdeutlich, nicht verfolgt, stattdessen lastete man die gesamte Schuld dem Angeklagten an, der im Jahr 1988 Sicherheitschef der lybischen Fluglinie auf Malta war.

Äußerst bequem für die USA – die sich jetzt am lautesten über die Freilassung Megrahis empören - denn mit seiner Verurteilung schienen auch die unangenehmen Fragen nach einer möglichen Verstrickung amerikanischer Geheimdienste in die Explosion an Bord des Pan Am Jumbos ad acta gelegt werden zu können. Immerhin befanden sich, wie anhand der Passagierliste nachgewiesen werden konnte, auch fünf CIA Agenten an Bord (das Magazin GEO berichtete bereits im Jahr 2000 ausführlich darüber), und es war ein offenes Geheimnis, dass solche Flüge mitunter für verdeckte Drogentransporte aus dem Nahen Osten in die USA genutzt wurden. "Nur nicht im Dezember 1988", wie die US-Seite verlautbarte. Welch praktischer Zufall.

Angehörige von Opfern unterstützen Megrahi

Megrahi, für den sich selbst viele Hinterbliebene von Opfern einsetzen und die Initiative „Gerechtigkeit für Megrahi“ gründeten, versuchte mehrfach erfolglos, eine Wiederaufnahme seines Verfahrens zu erreichen. Die Forderungen des Prozessbeobachters, Dr. Köchler, nach einer neuen, eingehenden Untersuchung der Vorgänge, ignorierte die schottische Justiz ebenfalls beharrlich.

Erst im Jahr 2007 – nachdem ein weiterer wichtiger Zeuge, Ulrich Lumpert, eine vierseitige Erklärung veröffentlicht und darin offen von der „Manipulation von Beweismitteln“ geschrieben hatte, und darüber hinaus zugab, solche selbst „unerlaubterweise den offiziellen Ermittlern im Juni 1989 (also mehr als ein halbes Jahr nach dem Absturz, Anm.) übergeben“ zu haben, billigte die Revisionskommission wegen eines „möglichen Fehlurteils“ ein Berufungsverfahren. Mehr als sechs Jahre nach der Verurteilung von Megrahi!

Diese Animation zeigt eindrucksvoll die Wirkung der Explosion auf den Rumpf von Pan Am 103, allerdings ist sie nicht ganz korrekt: als die Bugspitze abbrach, riss sie eines der Triebwerke von der Tragfläche ab; Im Juli 2007 gab der Schweizer Ingenieur Ulrich Lumpert zu, den Zündschalter, der angeblich an der Absturzstelle gefunden wurde, "illegalerweise im Juni 1989 den Ermittlern übergeben" zu haben - Quelle: Youtube

Im Frühjahr 2009, als dieser bereits schwer an Krebs erkrankt war, fand endlich die erste Anhörung statt. Als sich im Sommer 2009 seine Freilassung abzeichnete, zog der die Berufung zurück.

Wahre Hintergründe nach wie vor unklar

Heute steht jedenfalls fest – fast 21 Jahre nach dem Absturz von Pan Am 103 liegen die wahren Hintergründe über die Tragödie dieser Nacht im Dunkeln, und zwar mehr als je zuvor. Dass El Megrahi ein Bauernopfer war, ist offensichtlich. Ob er jedoch verurteilt wurde, um die wahren Hintermänner zu schützen, oder schlichtweg um der Öffentlichkeit möglichst rasch einen Schuldigen präsentieren zu können, wissen wohl nur die verantwortlichen Richter, von denen zumindest einer massive Zweifel hatte, das Urteil allerdings schlussendlich dennoch unterzeichnete. Der Grundsatz der modernen Rechtssprechung, „in dubio pro reo“, also, dass im Zweifel zugunsten des Angeklagten entschieden werden muss, wurde von den schottischen Richtern mit Füßen getreten.

Ein weiteres gewichtiges Argument spricht für die Unschuld von Abdel Bassit Ali Mohammed el Megrahi – welchen Grund hätte dieser, nach der Rückkehr in die Heimat, im Angesicht seines bevorstehenden Todes, noch die Unwahrheit zu sagen?

Und selbst, wenn er doch in irgendeiner Art und Weise an dem Attentat beteiligt gewesen wäre, alleine hätte er es niemals ausführen können.

Dazu hätte es ein Netzwerk von Leuten gebraucht, wie unter anderem der ehemaligen UN-Prozessbeobachter konstatiert:

„Für so einen Anschlag braucht es mindestens ein Dutzend Leute. Das muss angeordnet werden, man braucht eine Riesen-Logistik. Und man brauchte (wegen des Zeitzünders; Anm.) die absolute Gewissheit, dass das Gepäck umgeladen wird und die Flugzeuge rechtzeitig abheben. Das ist einfach nicht stichhaltig. Was ich nicht verstehe: Warum der Staat nicht von Amtswegen ein Verfahren gegen unbekannte Täter führt. Man darf sich nicht mit einem Sündenbock zufriedengeben, wenn klar ist, dass da ein Netzwerk dahinterstecken muss.“

Dr. Hans Köchler, UN-Prozessbeobachter im Lockerbie Verfahren im Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Die PRESSE"

Ermittler untersuchen die abgerissene Rumpfnase von Pan Am 103 - die Bugsektion, die optisch weitgehend intakt blieb, wurde zum fotografischen Synonym für die Tragödie von Lockerbie - Foto: unbekannt / Internet

Kommt die Wahrheit doch noch ans Licht?

Theoretisch gebe es wohl auch heute noch die Möglichkeit, die Tragödie von Lockerbie aufzuklären, nämlich dann, wenn die britische Regierung (über deren Territorium sich der Absturz ereignete) ohne Rücksicht auf politische Befindlichkeiten, vor allen Dingen der USA, eine lückenlose Untersuchung anordnen würde, im Rahmen derer auch unangenehme Fragen gestellt werden müssten, etwa, weshalb dem Gericht Beweise vorenthalten, bzw. solche nicht stichhaltig gewürdigt wurden.

Doch die Gefahr, dass im Rahmen einer solchen investigativen Untersuchung der Causa Lockerbie - ohne Rücksicht auf die Interessen einer oder mehrere Gruppierungen - womöglich eine politische Bombe platzen würde, scheint hoch zu sein. Daher steht zu befürchten, dass Dr. Köchler mit seiner Einschätzung, dass es eine solche aus eben genau diesem Grund nicht geben wird, recht behält.

Diese Befürchtungen bestätigt schließlich auch der frühere schottische Unterhausabgeordnete Tam Dalyell, der nach der Zurückziehung der Berufung durch Megrahi im August 2009 sagte, dass dies auf einen Deal mit der Regierung (die kurze Zeit später erfolgte Rückkehr nach Lybien, Anm. d. Verfassers) hindeuten würde. Im Londoner Verteidigungsministerium seien daraufhin „Seufzer der Erleichterung“ ausgestoßen worden, denn es sei zu erwarten gewesen, dass im Berufungsprozess Dinge ans Licht gekommen wären, die bisher von den USA und Großbritannien erfolgreich vertuscht worden sind, so Dalyell laut einem Bericht der deutschen TAZ.

Hier liegt nämlich auch der wahre Affront gegenüber den Hinterbliebenen, der Schlag in ihre seit mehr als 20 Jahren von seelischem Schmerz gepeinigten Gesichter. Und nicht in der Freilassung des todkranken Lybiers, der selbst die wenigen Monate, die er noch zu leben hat, nicht müde wird, alles zu tun, um seine Unschuld zu beweisen.

Denn die Hinterbliebenen der 270 Opfer von Lockerbie hätten nach über 20 Jahren endlich das Recht, die Wahrheit zu erfahren, so schmerzhaft sie wahrscheinlich auch wäre.

In Lockerbie steht ein Mahnmal, das an die Opfer jener schicksalshaften Nacht 3 Tage vor Weihnachten 1988 erinnert - Foto: Wikipedia

Doch so, wie die Dinge derzeit stehen, wird die Wahrheit über die Tragödie von Lockerbie noch lange Zeit im Dunkeln bleiben.

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Links:

Vereinigung Gerechtigkeit für Megrahi

Victims of Pan Am Flight 103 (Vereinigung von Hinterbliebenen)

The Boy who Fell Out the Sky (Der Bruder eines Opfers hat seine Trauer in diesem Buch verarbeitet)

BBC-Bericht vom 21. Dezember 1988

Titelseite der New York Times vom 22. Dezember 1988

BBC-Slideshow anlässlich des 20. Jahrestages der Katastrophe

(red CvD)

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.