Reportagen

30. September 1975: Der mysteriöse Absturz von Malév 240 vor Beirut

Die Unglücksmaschine auf dem Flughafen Budapest - Foto: Hungarian Aviation Historical Society

In den frühen Morgenstunden des 30. September 1975 stürzte eine Tupolev TU-154A der staatlichen ungarischen Fluggesellschaft Malév kurz vor der Landung auf dem Flughafen Beirut ins Meer. Alle an Bord befindlichen - laut ungarischen Angaben - 60 Insassen kamen bei dem Crash ums Leben. Die Absturzursache ist, zumindest offiziell, bis heute ungeklärt, ebenso der Verbleib der Opfer. Austrian Wings beleuchtet die ebenso tragischen wie mysteriösen Ereignisse dieser Nacht.

Im April 1975 bricht im Libanon ein blutiger Bürgerkrieg zwischen christlichen und arabischen Kräften aus, an dessen Ende mehr als 100.000 Menschen tot sein werden. Insgesamt sind fast ein Dutzend Konfliktparteien in die Kämpfe involviert, darunter auch Israel, die Terrororganisation Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die islamische Terrormiliz Hisbollah sowie die regulären syrischen Streitkräfte. Ganze Landesteile versinken in Schutt und Asche, auch die Hauptstadt Beirut und ihr direkt an der Küste liegender Flughafen werden durch die Kämpfe schwer in Mitleidenschaft gezogen. Sukzessive stellen daher die meisten Fluggesellschaften ihre Flüge in den Libanon ein. Malev, die staatliche Fluggesellschaft des kommunistischen Ungarn, fliegt das Bürgerkriegsland allerdings weiterhin an, trotz enormer Sicherheitsrisiken. So auch in jener schicksalhaften Nacht vom 29. auf den 30. September 1975.

Erfahrene Crew
Es ist später Nachmittag am Montag, dem 29. September 1975, als Kapitän János Pintér, Co-Pilot Károly Kvasz, Flugingenieur István Horváth, Pilot/Navigator Árpád Mohovits und der Techniker László Majoros beginnen, sich auf ihren Flug vorzubereiten.

Kommandant Pintér ist 42 Jahre alt und verfügt über etwa 3.700 Flugstunden Erfahrung, fast 1.400 davon auf der TU-154. Zudem ist er Fluglehrer. Der Erste Offizier Kvasz (36) hat etwa 3.300 Stunden Erfahrung in seinem Logbuch stehen, davon ist er 1.245 auf der dreistrahligen Tupolev geflogen. Der zusätzliche Pilot Árpád Mohovits (43), von dem angenommen wird, dass er auch Navigationsaufgaben während des Fluges wahrnimmt, hat 12.800 Stunden seines Lebens in Cockpits verbracht. Auf der TU-154 ist er mit rund 300 Stunden allerdings verhältnismäßig unerfahren. Flugingenieur Horvath (36) ist mehr als 1.400 seiner 1.600 Stunden als auf dem als robust und zuverlässig geltenden sowjetischen Dreistrahler geflogen. Und Techniker Majoros wurde in der UdSSR trainiert. Er gilt als ausgewiesener Wartungsspezialist für die TU-154 und ist deshalb bei diesem Flug mit an Bord, um gegebenenfalls auftretende Probleme in Beirut selbst beheben zu können und damit den Rückflug zu gewährleisten.

Parallel dazu findet sich auch nach und nach die Kabinenbesatzung, bestehend aus Ágnes Nemeth (23), Richárd Fried, Mercedesz Szentpály, Miklósné Herczegh und Lászlóné Németh auf dem Budapester Flughafen ein und beginnt mit ihrem Briefing. Für die gesamte Crew ist Flug 240 alles andere als Routine, denn die Situation in dem Bürgerkriegsland ist unberechenbar. Doch eine Dienstverweigerung ist in diesen Tagen in einem kommunistischen Land de facto nicht möglich, zumal der Dienst bei der nationalen Fluggesellschaft als große Ehre gilt sowie viele Privilegien, die "Normalbürger" nicht haben, mit sich bringt. Und so nehmen die Crews das unkalkulierbare Risiko wider Willen hin, nach dem Motto: "Es wird schon gut gehen." Was bleibt ihnen auch anderes übrig?

Internationales Publikum und illegale militärische Fracht
Insgesamt boarden an diesem Montag neben der zehnköpfigen Crew 50 Fluggäste die TU-154A, die damit zu weniger als einem Drittel besetzt ist. Die Reisenden sind Bewohner des Libanon, Ägypter, Saudi Araber, ein britisches Paar mit einem dreijährigen Kind, ein weiterer Brite, der finnische Diplomat Mauri Kroh, der finnische UN-Beobachter Hauptmann Heikki Paavola, vier französische Nonnen, ein angolanischer Staatsbürger sowie ein ungarischer Staatsbürger: Gabor Glausius - der zweifache Familienvater ist Geschäftsmann und will von Beirut nach Bagdad weiterreisen. Da die Terrororganisation PLO erst kurz zuvor ein "Büro" (eine Art "Botschaft") in Budapest eröffnet hat, wird von einigen Quellen angenommen, dass etliche der übrigen Passagiere Palästinenser sind. Zusätzlich gebucht ist weiters tatsächlich eine ranghohe PLO-Delegation von 53 Personen, die den Flug jedoch nicht antritt. Sie reist stattdessen kurzfristig mit dem Zug von Budapest nach Belgrad. Die Gründe dafür sind unbekannt. Einer Gruppe von finnischen Soldaten, die an Bord dieses Fluges in den Libanon reisen wollte, wird seitens der Fluggesellschaft Malév mitgeteilt, dass die Maschine "ausgebucht" sei, was nicht stimmt. Selbst, wenn die palästinensische Delegation an Bord gegangen wäre, hätte der Jet noch fast 60 freie Plätze. So aber sind es sogar rund 100 Sitze, die unbesetzt sind.

Zusätzlich werden Kisten mit Fracht in den Rumpf der Tupolev mit der Kennung HA-LCI verladen. Ungarische Quellen sprechen von "vier Tonnen" - eine Angabe, die sich allerdings nicht unabhängig überprüfen lässt. Zwar gibt es bis heute keine offizielle Bestätigung dafür, doch vermutlich handelt es sich um Kriegswaffen (Kalaschnikows und Handgraten), die illegalerweise an Bord des Zivilflugzeuges transportiert werden und für eine (oder mehrere) der Bürgerkriegsparteien im Libanon bestimmt sind, vermutlich für die PLO. Dafür spricht auch, dass die Maschine laut Informanten aus ungarischen Luftfahrtkreisen an diesem Abend auf einer besonders abgelegenen Position des Flughafens abgestellt ist. Dass solche Transporte in dieser Zeit die Regel waren, werden ehemalige Malév-Mitarbeiter später gegenüber Journalisten bestätigen. Auch gegenüber Austrian Wings führt ein Hinterbliebener eines Besatzungsmitgliedes im Zuge der Recherchen zu dieser Reportage an: "Diese illegalen militärischen Transporte gab es. Die Crews nannten die Behälter mit Waffen scherzhaft 'Blumenkisten'". Auch andere staatliche Fluglinien von Ostblockländern hätten solche Güter in Kriegsgebiete befördert, ist zu hören.

Massive Verspätung - weshalb?
Der ursprünglich für den Nachmittag um 16:50 Uhr geplante Start wird wiederholt verschoben - wie ungarische Quellen gegenüber unserer Redaktion berichten, war der Grund dafür, dass man auf die PLO-Delegation gewartet habe.

Es ist weit nach 22 Uhr, als der damalige CEO der Malév persönlich die Freigabe zur Durchführung des riskanten Fluges erteilt. Eine schicksalhafte Entscheidung. Die Crew von Kapitän Pintér lässt die drei Triebwerke ihrer TU-154 an, holt vom Kontrollturm die erforderlichen Freigaben ein und hebt schließlich gegen 23 Uhr vom Flughafen Budapest ab. Während des Steigfluges in den Nachthimmel werden sukzessive Fahrwerk und Klappen eingefahren sowie die Maschine nachgetrimmt. Kurs Südsüdost liegt an, als die Tupolev ihre Reiseflughöhe erreicht hat und ihrem rund 2.000 Kilometer entfernten Ziel entgegensteuert.

Piloten im Cockpit einer TU-154 der Malev bei der Arbeit, Symbolbild - Foto: Gyorgy Gadanyi / Miklos Szabo Collection

Maschine in einwandfreiem Zustand
Technisch sind an dem Flugzeug keinerlei Mängel bekannt, die Maschine ist erst 1973 gebaut worden. Produziert als TU-154, flog sie zunächst bei Egyptair und Aeroflot, ehe sie auf TU-154A-Standard hochgerüstet und an Malév ausgeliefert wurde, wo der Jet den Taufnamen "Ilona" erhielt und am 20. Juni 1975 in Dienst gestellt wurde. Angetrieben wird die HA-LCI von drei Kuznetsov NK-82-Turbinen. Am Unglückstag hat sie nicht ganz 1.200 absolvierte Flugstunden im Logbuch stehen und gilt damit de facto noch als neuwertig.

Passagierkabine einer Malev TU-154, Symbolbild - Foto: Miklos Szabo

Dementsprechend ereignislos verläuft auch der Flug Richtung Libanon. Die Route führt über Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, das Mittelmeer und schließlich über Zypern, das nur etwa 200 Kilometer vor der libanesischen Küste liegt und auf dem britische Militäreinheiten – inklusive einer Radarüberwachungsstation – ihre Basis haben.

Unauffälliger Funkverkehr
Um 00:19 Uhr melden sich die Piloten bei der Flugverkehrskontrollstelle in Nikosia, der Funkverkehr verläuft völlig unauffällig und beinhaltet Standardangaben wie Flughöhe oder Positionsmeldungen. Zu diesem Zeitpunkt fliegt die HA-LCI auf Flugfläche 370 (37.000 Fuß). 14 Minuten später gibt der Lotse die Tupolev zum Sinkflug frei: "Malev 240 you are cleared to descend to flight level 110." Diese Anweisung wird von der Crew bestätigt, die daraufhin die Einstellungen des Autopiloten entsprechend anpasst, um den Sinkflug einzuleiten.

Nachtaufnahme eines TU-154 Cockpits; auch dieses Flugzeug stand früher in den Diensten von Malev, Symbolbild - Foto: Miklos Szabo

Eine Minute später weist die Flugsicherung in Nikosia die Crew von Flug 240 an, Beirut auf der Frequenz 119.3 MHz zu kontaktieren. Wiederum lesen die ungarischen Flugzeugführer die Anweisung zurück und melden sich um 00:37 beim für MA 240 zuständigen libanesischen Fluglotsen – dieser gibt die Tupolev sofort frei zum Sinkflug auf 6.000 Fuß. Die Besatzung teilt dem Lotsen mit, die Anweisung verstanden zu haben, und setzt den Sinkflug fort. Der Mann im Tower muss sich dabei auf die Angaben der Piloten verlassen, denn sein Radarsystem funktioniert nicht. Das Instrumentenlandesystem ILS des Flughafens ist ebenfalls außer Betrieb, sodass die Piloten einen Sichtanflug durchführen müssen. Für eine derart erfahrene Crew wie jene von MA 240 ist dies unter den gegebenen Umständen – mehr als 20 Kilometer Sicht, eine funktionierende Pistenbefeuerung und eine hell erleuchtete Skyline der Stadt – allerdings kein Problem.

Um 00:44 Uhr teilt die Crew von Flug MA 240 der Flugsicherung Beirut mit, dass sie gerade Flugfläche 190 (19.000 Fuß) passiert. "Roger, report BOD outbound", antwortet die Bodenstelle. "Roger, will do", kommt es aus dem Cockpit der Tupolev zurück.  Das ist der letzte Funkkontakt mit der Maschine – sie wird nie in Beirut ankommen, sondern stürzt acht Kilometer nordöstlich vor der Küste ins Meer. Was danach geschieht, beschäftigt und empört die ungarische Öffentlichkeit bis heute, mehr als 40 Jahre nach der Katastrophe.

Bei Tageslicht wurde das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar - Foto: Archiv Austrian Wings

Keine Unfallermittlung, nur ein "geheimer" Bericht
Eine auf Zypern stationierte, sich gerade in der Luft befindliche Lockheed C-130 Hercules der britischen Royal Air Force wurde von der Flugsicherung gebeten, an der letzten gemeldeten Position von Flug 240 nach Hinweisen auf den Verbleib der Maschine zu suchen – und wurde ganz in der Nähe kurz darauf fündig: "Wir sahen Wrackteile, einen Ölteppich und Leichen im Meer treiben", erinnerte sich der Navigator der Maschine später.

Diese Aufnahme zeigt vermutlich die Bergung eines Opfers - Foto: Archiv Austrian Wings

"Wir teilten unsere Beobachtungen der Flugsicherung mit, Bergungsschiffe waren vor Ort, zogen die Trümmer und die Leichen aus dem Wasser." Was den Absturz verursacht hatte, konnte die Crew der Hercules natürlich nicht sagen, doch mehrere in der Nähe der Küste lebende Zeugen gaben an, zum fraglichen Zeitpunkt eine Explosion gehört und gesehen zu haben. Auch lokale Medien berichteten in den Tagen nach dem Absturz davon. Doch in Ungarn wollte man davon nichts wissen, es hieß lediglich, dass die Maschine abgestürzt sei. Üblicherweise läuft nach einem derartigen Ereignis eine großangelegte Suchaktion an, bei der zunächst nach Überlebenden, dann nach Leichen und schließlich nach den Flugschreibern gesucht wird. Nicht so in diesem Fall. Nach der Bergung der ersten Trümmer und Opfer durch libanesische Kräfte wurden offenbar sämtliche Maßnahmen eingestellt. Ungarn verneinte, dass überhaupt Leichen geborgen worden seien. Lászlo Németh, der seine Frau bei dem Absturz verlor, gegenüber Austrian Wings: "37 Insassen wurden geborgen und teilweise in der medizinischen Fakultät der amerikanischen Universität Beirut obduziert. Einige der arabischen Leichen wurden von ihren Familien abgeholt, die übrigen in einem Massengrab an einem unbekannten Ort beigesetzt."

Auf diesem Foto ist zweifelsfrei eine geborgene Leiche zu erkennen. Obwohl sogar die UN in einem internen Bericht von 37 geborgenen Opfern spricht, behaupteten Malev und der ungarische Staat bis zuletzt, dass keiner der Insassen geborgen worden sei - Foto: Archiv Austrian Wings

Das sozialistische Ungarn verhielt sich in der ganzen Angelegenheit auffallend passiv und schien nicht das geringste Interesse an einer umfassenden Untersuchung des Verlustes seiner Maschine und der darin befindlichen Menschen zu haben. Hilfsangebote der Briten und US-Streitkräfte, die über entsprechende Suchschiffe mit Unterwasserortungstechnik verfügten, wurden offenbar gezielt ausgeschlagen. Es hieß, der Libanon sei für die Durchführung der Untersuchung zuständig, was de jure sogar korrekt ist. Allerdings herrschte dort Bürgerkrieg, und Ungarn hätte eigentlich ein berechtigtes Interesse an einer lückenlosen Aufklärung der Tragödie haben müssen. Es wäre juristisch für die Regierung des Libanon problemlos möglich gewesen, um für internationale Hilfe bei der Bergung des Wracks sowie die Untersuchung des Unglücks zu ersuchen – was jedoch nicht geschah.

Und so blieben das Wrack und die beiden Flugschreiber auf dem Grund des Mittelmeeres, bis heute. Im Jahr 2003 führte der ungarische Geheimdienst eine eigene Untersuchung durch, über die es sogar einen Bericht geben soll – die Ergebnisse wurden allerdings als "streng geheim" klassifiziert und sind, so ungarische Medien, angeblich mittlerweile "nicht mehr auffindbar".

Einen offiziellen zivilen Untersuchungsbericht zu dem Unfall gibt es – entgegen allen internationalen Gepflogenheiten – selbst im Jahr 2018 noch nicht, zumal auch die Aufnahmen des Funkverkehrs zwischen Malév 240 und den Fluglotsen in Beirut niemals publiziert wurden. Und eine Passagierliste wurde ebenfalls niemals veröffentlicht.

Geheimdienste hüllen sich in Schweigen
Dabei ist zumindest einigen Stellen ganz genau bekannt, was in jener Nacht geschah, denn diese Region im Nahen Osten wurde – gerade in Zeiten des kalten Krieges und eines tobenden Bürgerkrieges im Libanon – gleich von mehreren militärischen Verbänden und Geheimdiensten intensiv überwacht. Radardaten wurden aufgezeichnet, ebenso verschiedenste Funkfrequenzen abgehört. Daher ist davon auszugehen, dass auch Flugweg und Funkverkehr von Malév 240 zumindest von den Briten (auf Zypern sowie auf Schiffen im Mittelmeer), den USA (6. US-Flotte sowie via AWACS-Maschinen), der Sowjetunion (auf Schiffen) und von Israel, dessen Geheimdienste bekanntlich zu den besten der Welt gehören, genauestens mitverfolgt wurden. Doch Militärs und Geheimdienste machen bis heute keinerlei Anstalten, ihr Wissen um die Ereignisse, die sich in den frühen Morgenstunden des 30. September vor Beiruts Küste abgespielt haben, den Hinterbliebenen der Opfer mitzuteilen – und dafür haben sie wohl (zumindest aus ihrer Sicht) "gute" Gründe.

Theoretisch mögliche Absturzursachen: Pilotenfehler, Bombe, Feuer an Bord, Abschuss durch einen syrischen, israelischen oder libanesischen Kampfjet
Grundsätzlich kommen mehrere Absturzursachen in Betracht. Die häufigste Unfallursache in der Luftfahrt war und ist menschliches Versagen. So wäre es theoretisch denkbar, dass die Crew bei Nacht die Orientierung verlor, die Höhe falsch einschätzte und unbeabsichtigt einen so genannten "Controlled Flight into Terrain", in diesem Fall eben ins Meer, durchführte. So etwas kam bereits früher vor und auch danach. Gegen diese Theorie sprechen allerdings die oben geschilderten Umstände rund um die nicht stattgefundene Unfalluntersuchung und die mutmaßlich illegale Waffen-Ladung. Zudem boten die Pistenbefeuerung des Flughafens und die hell erleuchtete Skyline von Beirut den Piloten eine gute visuelle Referenz.

Daher rücken andere Ursachen als Auslöser des Unglücks in den Fokus: Einerseits könnte militärische Fracht an Bord der Maschine in Brand geraten und/oder explodiert sein. Das würde auch die von mehreren Augenzeugen beobachtete "Explosion" erklären. Allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass die Crew im Fall eines Brandes wenige Minuten vor der Landung keinen Notruf abgesetzt hätte. Andererseits könnte eine an Bord geschmuggelte Bombe den Jet zum Absturz gebracht haben. Angesichts der großen Verspätung, mit der die Maschine in Budapest gestartet war, erscheint diese Version eher unrealistisch – außer es hätte sich um einen Selbstmordattentäter gehandelt, doch dafür gibt es keinerlei Indizien. Zudem seien bei der Autopsie der geborgenen Leichten laut Lászlo Németh keinerlei Rußspuren in den Lungen der Opfer gefunden worden, was ein Feuer und/oder Rauch in der Kabine vor dem Absturz de facto ausschließt.

Die Überreste der HA-LCI wurden nie geborgen. Auch die beiden Flugschreiber liegen noch immer auf dem Meeresgrund vor der libanesischen Küste - Foto: Dr. Peter Moys via Werner Fischdick

Damit bleibt als letzte – und plausibelste – Ursache des Unglücks, ein Abschuss der Tupolev, vermutlich durch ein Kampfflugzeug. Dafür in Frage kämen sowohl die israelische als auch die syrische sowie die libanesische Luftwaffe, wohingegen ein Abschuss durch ein NATO-Flugzeug so nahe vor der libanesischen Küste unwahrscheinlich und unlogisch wäre. Doch sowohl Israel – dessen Erzfeind die PLO war – als auch Syrien waren an dem Konflikt im Libanon aktiv beteiligt, beide Staaten verfolgten dementsprechend ihre eigenen Interessen, und beide Länder verfügten außerdem über Abfangjäger, die in der Lage gewesen wären, die Tupolev problemlos abzuschießen. Und sowohl Israel als auch Syrien hätten von der Schwächung der PLO profitiert, die zweifellos eingetreten wäre, wenn die gebuchte 53-köpfige Delegation tatsächlich an Bord von Flug 240 gewesen und beim Absturz ums Leben gekommen wäre. Doch auch die christlichen Milizen im Libanon hätten Vorteile daraus ziehen können, wenn die PLO geschwächt worden und zudem eine Waffenlieferung nicht angekommen wäre.

Lászlo Németh, der Ehemann der beim Absturz ums Leben gekommenen Stewardess Agnes Németh, ist jedenfalls davon überzeugt, dass ein israelischer Phantom-Kampfjet die Tupolev abgeschossen hat: "Die Maschine flog hinter MA 240 und feuerte zwei Raketen, vermutlich Sidewinder, ab. Das ganze Geschehen wurde von einer britischen Radarstation auf Zypern beobachtet und von einem diensthabenden Offizier unter der Zusicherung voller Anonymität bestätigt." Ein libanesischer Fluglotse habe den Abschuss durch einen israelischen Abfangjäger ebenfalls informell bestätigt, – sogar gegenüber dem damaligen Malév-Chefpiloten Andras Fülop – sich jedoch geweigert, seine diesbezüglich Aussage bei einer offiziellen Untersuchung zu wiederholen.

Und tatsächlich erklärte in der ungarischen TV-Dokumentation "A Malév 240-es járatának története" (auf Deutsch: "Die Geschichte von Flug Malev 240") auch eine Informantin namens "Jessica" auf Englisch, mit typisch britischem Akzent, dass der Absturz "kein Unfall" war. Die Tupolev sei "von zwei Sidewinder-Raketen abgeschossen" worden. "Jessica" soll demnach damals zur 280th Signal Unit der Royal Air Force auf Zypern gehört haben. In der gleichen Dokumentation äußerte sich auch der ehemalige finnische Außenminister Erkki Tuomioja: "Der Abschuss war ein Akt der Barbarei. Wir wissen nicht, wer es getan hat, aber es ist klar, dass auf dem Flug gebuchte Palästinenser das Ziel waren."

Der ehemalige Malév-Chefpilot Andras Fülop bestätigte in Interviews mit ungarischen TV-Sendern übrigens, dass Waffentransporte an Bord von "zivilen" Malév-Flügen, absolut üblich gewesen seien: "Ich selbst habe jede Menge solcher Transporte durchgeführt. Die militärischen Güter waren dabei als Näh- und Schreibmaschinenzubehör deklariert." Und Fülop ist ebenfalls davon überzeugt, dass Flug 240 abgeschossen wurde, von wem könne er jedoch nicht sagen.

Unabhängig davon wird die Abschusstheorie durch ein Schreiben des finnischen Diplomaten Paul Jyrkaenkallio, er war seinerzeit Botschafter in Budapest, vom März 1976 an den finnischen Premierminister gestützt. Darin schreibt der Politiker, dass Flug 240 "entweder von Israel oder dem Libanon abgeschossen beziehungsweise durch eine Bombe zerstört" worden sei, da sich an Bord "in Ungarn militärisch trainierte palästinensische Kämpfer" befunden hätten. Sowohl Israel als auch die christlichen Milizen im Libanon hätten daher ein berechtigtes Interesse gehabt, die Ankunft dieser Personen im Libanon zu verhindern. Laut dem ungarischen Autor Laszlo Bencsics hatte Malev tatsächlich schon vor dem Absturz von Malev 240 wiederholt verwundete palästinensische Terroristen aus dem Nahen Osten nach Budapest geflogen, wo sie "als Kriegshelden" medizinisch behandelt wurden. Von diesen Transporten existieren sogar Videoaufnahmen, die im Internet abrufbar sind und die verwundeten Kämpfer mit "Victory-Zeichen" an Bord der Malév-Flugzeuge sowie bei der Ankunft in Budapest zeigen.

Was allerdings deutlich gegen eine Beteiligung Israels spricht, ist der Umstand, dass die gebuchte hochrangige 53-köpfige PLO-Delegation nicht an Bord von Flug MA 240 war. Und es ist davon auszugehen, dass die israelischen Geheimdienste über jede Bewegung dieser Gruppe in Budapest ganz genau Bescheid wussten und daher auch exakt darüber im Bilde waren, dass die Männer ihre Reisepläne kurzfristig geändert hatten und die Tupolev ohne sie abgehoben hatte. Andererseits hatte die kampferprobte israelische Luftwaffe erst zweieinhalb Jahre zuvor eine zivile Boeing 727-200 der Libyan Arab Airlines mit 113 Menschen an Bord abgeschossen, von denen 108 starben. Die Lufwaffenführung Israels sah in der Maschine eine Bedrohung, da sie annahm, die 727 könnte zu Spionagezwecken zur Luftwaffenbasis Bir Gifgafa fliegen. Im Nachhinein bezeichnete der legendäre israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan den Abschuss libyschen 727 im Jahr 1973 als "Irrtum", und Israel leistete Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen der Opfer.

Geheimnis auf dem Meeresgrund
Wer oder was auch immer den Verlust von Flug MA 240 herbeigeführt hat: Da die Geheimdienste ihr Wissen weiterhin für sich behalten, könnte nur eine Bergung des Wracks sowie der beiden Flugschreiber Klarheit über die Absturzursache bringen. Wobei ungewiss ist, ob beziehungsweise inwieweit der Cockpit-Voice-Recorder und der Flight-Data-Recorder nach mehr als 40 Jahren auf dem Meeresgrund überhaupt noch ausgelesen werden könnten. Anders sieht die Sache allerdings mit den Trümmerteilen selbst aus. Sie könnten auch nach einer so langen Zeitspanne zweifelsfrei darüber Aufschluss geben, ob es inner- oder außerhalb der TU-154 eine Explosion oder einen Brand gegeben hat. Unter Umständen ließen sich – im Fall eines Abschusses – sogar der Raketen- oder der Bordkanonentyp bestimmen, mit dem auf Malév 240 gefeuert wurde. Zudem ließe sich durch eine Bergung der Ladung, die sich mit dem Wrack auf dem Meeresgrund befindet, zweifelsfrei feststellen, ob tatsächlich – wofür viele Indizien sprechen – illegales Kriegsgerät an Bord der HA-LCI befördert wurde.

Rein technisch wären eine Lokalisierung des Wracks und die Bergung der entscheidenden Teile heutzutage in jedem Fall problemlos möglich. Die Tupolev wird in 600 bis 1.000 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund vermutet, auch die ungefähre Position ist bekannt. In der Vergangenheit wurden schon Schiffe und Flugzeuge in wesentlich tieferen Lagen aufgespürt, erforscht oder geborgen, etwa im Fall von Flug AF 447 oder Flug SA 295 beziehungsweise Itavia Flug 870, aber auch in wesentlich prominenteren Fällen wie der Titanic oder der Bismarck, um nur einige Beispiele zu nennen.

Parte der Malev für die getöteten Crewmitglieder - für die zehn Besatzungsangehörigen sowie den einzigen Passagier mit ungarischer Staatsangehörigkeit gibt es in Ungarn seit dem Jahr 2005 symbolisch 11 leere Gräber und ein Denkmal auf dem Farkasréti Friedhof - Foto: Archiv Austrian Wings

Es mag nachvollziehbar erscheinen, dass die Regierung des von 1975 bis 1990 im Bürgerkriegs-Chaos versunkenen Libanon andere Prioritäten hatte, als sich um die Aufklärung des Absturzes zu kümmern, auch wenn das die Pflicht des Staates gewesen wäre – doch der Konflikt ist seit mittlerweile 27 Jahren beendet, und der Libanon macht bis heute keine Anstalten, die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten und die Untersuchung wieder aufzunehmen beziehungsweise endlich zu eröffnen. Dieses Versagen könnte man – wohlwollend – vielleicht noch mit der instabilen politischen Situation in der ganzen Region erklären, denn auch heute funktionieren im Libanon staatliche Instutitionen teilweise nur sehr rudimentär.

Dass aber selbst Ungarn auch mehr als 40 Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden von Flug MA 240 (und fast 30 Jahre nach dem Fall des Kommunismus) trotz Drucks der dortigen Medien und der Hinterbliebenen der elf ungarischen Opfer keinerlei Anstrengungen unternimmt, diese Tragödie aufzuklären, mutet – ebenfalls wohlwollend formuliert – durchaus fragwürdig an. Und so kann es wohl kaum verwundern, dass selbst Personen, die weit davon entfernt sind, Verschwörungstheoretiker zu sein, mitunter das Gefühl beschleicht, dass es – aus Sicht mancher ungarischer Regierungspolitiker – wohl durchaus einige gewichtige Gründe dafür gibt, das Wrack der unglückseligen HA-LCI weiterhin in seinem nassen Grab auf dem Meeresgrund vor dem Libanon ruhen zu lassen – damit es seine womöglich hochbrisanten Geheimnisse der ungarischen Öffentlichkeit nicht offenbaren kann ...

CvD