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Buchtipp: Der Jude mit dem Hakenkreuz

Wie verfasst man eine Rezension über ein Buch, das einem beim Lesen die Sprache verschlagen hat? Das gleichzeitig aber so spannend war, dass man die fast 500 Seiten in drei Tagen ausgelesen hat? Der Versuch einer Kritik "aus dem Bauch" heraus.

In seinem Buch "Der Jude mit dem Hakenkreuz" schildert der deutsche Journalist Lorenz S. Beckhardt die Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie. Im Fokus steht dabei sein Großvater, der Jagdflieger Fritz Beckhardt, der im Ersten Weltkrieg 17 Luftsiege errang und mit den höchsten Orden ausgezeichnet wurde, siehe auch unsere diesbezügliche Reportage. "Opa Fritz war ein Militarist vor dem Herrn", beschreibt Lorenz Beckhardt, den seine Eltern als Baby taufen ließen, weil sie ihn "nicht als Jude in Deutschland aufwachsen lassen wollten", seinen Großvater. Seine jüdischen Wurzeln entdeckte Lorenz Beckhardt nämlich erst, als er als rebellischer junger Mann den Dienst in der Bundeswehr verweigern wollte und ihm ein Onkel erklärte, dass er als Nachkomme von NS-Verfolgten ohnedies davon befreit wäre. Starker Tobak für den jungen Lorenz, der als bekennender Linker Israel kritisch gegenüberstand und ihm vorwarf, die Palästinenser zu unterdrücken.

Wer von dem Buch jetzt allerdings einen Heldenroman über die "edlen Ritter der Lüfte" erwartet, der wird bitter enttäuscht sein. Vielmehr zeichnet Lorenz Beckhardt das Leben seines Großvaters, des Wehrpflichtigen Fritz Beckhardt im deutschen Kaiserreich, bis zu dessen Aufstieg zum gefeierten Fliegerass im Ersten Weltkrieg penibel nach. Nach dem Krieg heiratete Fritz Beckhardt Rosa Emma und übernahm das Bekleidungs- und Lebensmittelgeschäft der Schwiegereltern. Die Familie brachte es mit Fleiß und harter Arbeit zu Wohlstand. Und Fritz war wohl auch das was man heutzutage einen "Womanizer" nennt. Mit der Hausangestellten Lina Lahr zeugte er einen unehelichen Sohn - das brachte ihn später wegen Rassenschande ins Gefängnis und ins KZ, aus dem er 1940 auf Intervention von Hermann Göring entlassen wurde.

Der Leser erfährt viel über das aufgeklärte liberale deutsche Judentum jener Zeit, in der die meisten Juden ihr Judentum als Religion sahen, sich in erster Linie aber als Deutsche und deutsche Patrioten betrachteten. Kaum einer von ihnen sprach mehr als ein paar Brocken Hebräisch, wenn überhaupt! In trockener Sprache, gewürzt mit Ironie aber immer ohne den belehrend erhobenen Zeigefinger, nimmt der Autor die Leser mit in das Deutschland der 1920er und 1930er Jahre, schildert ebenso beklemmend wie eindrücklich die immer schnellere Entwicklung des Antisemitismus und beleuchtet dessen historische Wurzeln, die bis ins Mittelalter zurück reichen. "Der Antisemitismus war keine Erfindung der Nazis, sie haben ihn nur perfektioniert und damit den Weg zum durch große Teile der Bevölkerung unwidersprochenen Massenmord geebnet."

Lorenz Beckhardt ist dabei durchaus selbstkritisch und legt dar, dass es sogar "jüdische Nazis" gab, die im Nationalsozialismus und im Antisemitismus etwas Gutes sahen, weil sie politisch die „nationale Revolution“ begrüßten oder selbst für eine strikte Rassentrennung waren und in den Nazis den Garant dafür sahen, die "jüdische Rasse rein zu halten". Sie waren überzeugt "ihren Platz im Reich neben dem deutschen Volk" zu erhalten. Sie sollten diesen Irrtum mit ihrem Leben bezahlen.

Er beschreibt die inneren Spannungen zwischen alteingesessenen und assimilierten deutschen Juden, Zuwanderern aus Osteuropa, liberalen und orthodoxen Gläubigen. Man fühlt sich, als wäre man mittendrin. Im zunehmenden Verlauf des Buches spürt der Leser förmlich, wie die Situation der deutschen Juden immer unerträglicher wird. Wie sie eine Demütigung nach der anderen über sich ergehen lassen müssen, wie sie von Nachbarn geschnitten, verhöhnt, beleidigt, geschlagen werden. Wie alte Menschen auf offener Straße von grölenden SA-Horden niedergeprügelt werden und niemand ihnen hilft. Man muss tief Luft holen um überhaupt weiterlesen zu können, denn das Grauen dieser Zeit wird greifbar, steigt in einem selbst hoch, erfasst einen. Unweigerlich kommt Wut auf, man möchte den Protagonisten des Buches zurufen "Haut ab, verlasst dieses Land!". Obwohl der Leser den Verlauf der Geschichte kennt, keimt auch immer etwas Hoffnung auf, dass sich die Situation vielleicht doch noch verbessern könnte. Mitnichten. Gleichzeitig fragt man sich, wie sich die Mehrheit der Bevölkerung so verblenden lassen konnte. Es gab nur wenige, die "hochanständig" geblieben sind, wie Fritz Beckhardts Sohn Kurt es beschreibt. Auch diese Personen werden im Buch gewürdigt.

Bis zuletzt wollten Fritz Beckhardt und viele national gesinnte Juden nicht wahrhaben, dass es den Nazis um zwei Dinge ging: Um das Vermögen der jüdischen Mitbürger und um deren Beseitigung, sobald finanziell nichts mehr zu holen war.

Auch ein Teil der Familie Beckhardt fiel diesem Terror zum Opfer, während Fritz, seiner Frau Rosa Emma und den Kindern die Flucht nach England gelang. Ausgeplündert bis auf das sprichwörtliche Unterhemd. Als Fritz Beckhardt Deutschland schließlich verließ, sagte er zu seinen Eltern: "Papa, Hitler wird den Krieg verlieren. Wir kommen zurück, auch nach diesen ‚tausend Jahren‘ wird es noch Juden am Rhein geben.“ Er sollte Recht behalten, doch seine Eltern erlebten die Rückkehr des Sohnes nicht mehr. Sie wurden von den Nazis ermordet.

Die Kinder Kurt und Hilde integrierten sich rasch in London, sprachen schnell akzentfreies Englisch, doch Fritz wusste mit den Engländern nichts anzufangen. Im Herzen war er ein stolzer Deutscher. "Seine deutsche Heimat war sein Heroin", bringt es Lorenz Beckhardt auf den Punkt.

Selbst nach vielen Jahren im Exil beherrschte Fritz kaum Englisch, verzehrte sich förmlich nach seiner "deutschen Heimat". 1950 fiel der Entschluss zur Rückkehr. Er war überzeugt, an seine Vorkriegserfolge als Kaufmann anknüpfen zu können.

Während seine Tochter Hilde in England blieb, zog es den deutschen Patrioten Fritz zurück in seine Heimat. Seine Frau und Sohn Kurt folgten ihm. Doch was die Familie Beckhardt dort erlebt, ist mit Worten fast nicht zu beschreiben. "Warum seid Ihr zurück gekommen?", fragen die Bewohner von Wiesbaden-Sonnenberg vorwurfsvoll. Sein Geschäft und seinen Besitz bekommt Fritz Beckhardt erst nach Jahren des juristischen Streits zurück, denn in den Ämtern und Behörden sitzen alte Nazis, Mitläufer und Opportunisten, die sich selbst nur allzu gern als Opfer betrachten. Die Bewohner des kleinen Ortes boykottieren "den Juden" - wie schon seit 1933. Andere schämen sich, wissen nicht, wie sie den Beckhardts gegenübertreten sollen.

Der hochdekorierte einstige Kriegsheld verzweifelt, erleidet mehrere Schlaganfälle und stirbt als verbitterter verarmter Mann 1962 im Alter von 73 Jahren. Seine Frau Rosa Emma überlebt ihn um 20 Jahre. Tochter Hilde stirbt 2001, Sohn Kurt ist heute 87 Jahre alt und erzählt seine Geschichte im Fernsehen und vor Schülern. Lorenz Beckhardt trat der jüdischen Gemeinde Bonn bei, vollzog die Brit Mila und nahm zusätzlich den Namen Shlomo an, wie der geneigte Leser in seinem Buch erfährt.

"Der Jude mit dem Hakenkreuz" ist eine Geschichte, die zur Pflichtlektüre in allen Schulen werden sollte. Auch den Stammwählern radikaler politischer Parteien sei sie mit Nachdruck empfohlen. Denn sie ist eine Mahnschrift gegen Antisemitismus, Militarismus, blinden Kadavergehorsam, tumben Nationalismus und vermeintlich ehrenvolle Pflichterfüllung. Wie oft hört man diesen Satz von Soldaten und Polizisten, bis in die heutige Zeit hinein: "Ich habe nur meine Pflicht erfüllt." Es ist eine billige Ausrede dafür, dass man nicht selbst denken muss und sich vor der Verantwortung für seine Handlungen drücken möchte.

Die Geschichte der Familie Beckhardt ist zugleich ein Appell an die Menschlichkeit, daran, Dinge und Entwicklungen stets kritisch zu hinterfragen sich nicht von anderen Menschen blind (ver-) führen zu lassen.

Zwei Sätze, die Kurt Beckhardt seinem Sohn Lorenz mit auf den Lebensweg gab, blieben dem Rezensenten in besonderer Erinnerung: "Der einzelne mag schlau sein, aber die Masse ist dumm." Und: "Wenn es alle machen, dann machen wir es nicht."

Man möge an diese Worte denken, wenn wieder einmal Politiker einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen und eine bestimmte Gruppe von Menschen ohne jede Differenzierung zur angeblichen Ursache von Problemen erklären. Die Botschaft dieses gleichsam bedrückenden wie aufrüttelnden Buches ist ebenso simpel wie bedeutsam: "Seid wachsam!" Es ist an der Zeit.

Infos zum Buch:

Lorenz S. Beckhardt
Der Jude mit dem Hakenkreuz
Gebunden mit Schutzumschlag, 480 Seiten

Aufbau Verlag

978-3-351-03276-0
24,95 € *) / 35,50 Sfr
Inkl. 7% MwSt.
*) Die Preisangaben in Euro sind die gebundenen Ladenpreise für Deutschland. Die Europreise für Österreich legt der von uns autorisierte Importeur entsprechend dem österreichischen Preisbindungsgesetz fest.

(red CvD)