Punktlandung

"Chaos" und "Horror" an Bord - Viel Lärm um nichts?

Kinder im Trotzalter sind, nicht nur auf Flugreisen, bisweilen eine Herausforderung - vor allem aber für die Eltern ... - Symbolfoto: PA / Austrian Wings Media Crew

„Horrorflug in die USA.“ – Was wie ein Titel zu einem Psychothriller klingt, ist eine von vielen ähnlich lautenden Überschriften zu Medienberichten, die dieser Tage ein Amateurvideo als gefundenes Fressen präsentieren. Darin angeblich zu sehen, so die Ankündigung: „Chaos an Bord“. Was ist da bloß passiert?

Es soll sich auf einem Flug von Deutschland in die USA zugetragen haben, und zwar schon vergangenen Sommer. Zu sehen: ein Kind, in etwa drei Jahre alt, der sich auf dem Langstreckenflug in die Vereinigten Staaten ziemlich gelangweilt haben dürfte. – Horror? Chaos? Die Schlagwörter klingen vielversprechend. Vermag ein Dreikäsehoch es tatsächlich, derartige Tragödien in einem Flugzeug auszulösen, wie man sie ansonsten nur bei Medienberichten zu Naturkatastrophen oder Geiselnahmen zu lesen bekommt?

Das gesamte Video hat eine Laufzeit von weniger als fünf Minuten – die jedoch, so suggeriert der Filmer, stellvertretend für den kompletten achtstündigen Flug stehen sollen. Zunächst zu sehen: ein Kind, das am Sitz herumturnt. Dazu die Aufforderung seiner Mutter: „Setz dich nieder!“ Reaktion des Kleinen: trotziges Geschrei. Dann die erläuternde Einblendung des Hobbyfilmers: „Dämonische Schreie beherrschen das Flugzeug.“

Damit sich der geneigte Betrachter vom dämonischen Geschehen aber zumindest per Kopfkino sein eigenes Bild zeichnen kann, sieht man fortan nicht mehr das Kind, sondern eine Nahaufnahme der Rückenlehne eines Sitzes. Doch wie der Cineast weiß, wird der wahre Schrecken in der Filmkunst ja oft erst durch das Nichtgezeigte verbreitet. Immerhin hilfreich: der Möchtegernregisseur hilft mit teils orthographisch mangelhaften, aber immerhin illustrierenden Einblendungen dankend nach.

Was macht eine Mutter in einem Fall wie diesem? Das Video erläutert es. Sie versucht ganz offensichtlich, die Situation in irgendeiner Form unter Kontrolle zu bringen. Und jeder, der Kinder hat, und sich gedanklich in dieses Szenario hineinfühlt, weiß: ein Patentrezept gibt es nicht. Schon gar nicht, wenn sich das Kind im typischen „Trotz-Alter“ befindet. Je mehr man schimpft, zurechtweist oder im schlimmsten Fall sogar mit härteren Bandagen versucht, den tobenden Zwerg im Zaum zu halten, desto größer wird dessen Rebellion ausfallen.

Das scheint ganz offenkundig auch der Mutter des kleinen Passagiers bewusst zu sein. Ob denn bereits die WLAN-Verbindung verfügbar wäre, so dass ihr Sohn eventuell mit dem iPad abgelenkt werden könnte, fragt sie die Flugbegleiterin. Leider Fehlanzeige, wie die neuerliche Einblendung im Video verrät: man war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gestartet.

Man hört, wie die junge Frau ihr Kind geduldig, aber mit Nachdruck zu beruhigen versucht. Dennoch schwingt in ihrer Stimme mit, wie sehr sie diese Situation selbst belastet. Und mit einer Prise Hausverstand kann man sich lebhaft vorstellen, wie unangenehm ihr die Situation wohl gewesen sein musste.

Nach einem Schnitt zeigt sich ein damaturgisch weiterhin wenig aufregendes Bild: die unscharfe Aufnahme der Tischunterkante vom Vordersitz. Aufwertung erfährt diese Einstellung wiederum nur durch die Einblendung des Internet-Filmemachers, der erklärt: „Es wird ruhiger. Das Kind darf durchs Flugzeug laufen.“

Ein neuer Schnitt. Man hört vereinzeltes Kindergeschrei. Zu sehen ist das wenig wertvolle Close-Up von etwas, das an einen Becherhalter erinnert. Der animiert eingefügte Text spricht, pardon schreibt, nun von der „Fortsetzung dämonischer Geräusche, Stunde 1“. – Wieder Schnitt. Nun ein gänzlich unscharfes Bild ohne jegliche erkennbare Kontur. Texttitel: „Vor der Kamera: der totale Untergang.“ Ja, aber wohl nur bei der Bildgestaltung. Denn als einzig wertvolle Tonaufzeichnung ist ein Herr zu hören, der erläutert: „Da läuft ein Kind … “ Vermutlich handelt es sich bei dem Sprecher, der nach dem Halbsatz nicht mehr weiterzuwissen scheint, um den Filmer selbst.

Das Amateurvideo zeigt ein völlig gestresstes Kleinkind, dazu verzichtbare Kommentare als Einblendung. Im Originalmaterial werden sämtliche Personen ohne jegliche Anonymisierung abgebildet. (Screenshot YouTube)

In der folgenden Aufnahme zeigt er den kleinen Burschen jedoch in Nahaufnahme, als dieser sich durch den Mittelgang bewegt. „Er darf Chaos verursachen, das Kind läuft schreiend durch die Kabine“, ist aus der Satzzeichen-befreiten Einblendung zu erraten.

Chaos? Wie reagieren die anderen Fluggäste auf die Situation?

Eine Männerstimme, die ebenfalls versucht, beruhigend auf den aufgebrachten Dreijährigen einzuwirken, ist zu hören: „Deine Mama ist hier! Mama ist da!“ Und die Mutter: „Alles ist in Ordnung! Komm mit mir!“ Wieder ist zu erkennen, wie sehr die verzweifelte Frau darum bemüht ist, ihrem Kind gegenüber Ruhe auszustrahlen.

Eine andere Frau ist zu hören – sie zeigt sich solidarisch mit der Kindesmutter: „Das ist alles andere als einfach.“ Und eine weitere Frauenstimme bekundet: „Das tut mir so leid für sie. Ich fühle mit ihr.“

Wieder ein Schnitt, wieder eine neue Einstellung. Das Kind scheint zu seinem Sitz zurückgefunden zu haben. Keine Schreie, kein Toben. Der Kleine inspiziert das Overhead Panel, jedoch ohne an Schaltern herumzuspielen. Damit das Szenario jedoch an Dramatik gewinnt, erklärt der selbsternannte Nachwuchs-Spielberg: „Die Mutter lässt das Kind machen, was immer es möchte.“

In einer späteren Szene hört man das Kind weinen, beziehungsweise schreien. Die Mutter: „Beruhige dich, mein Schatz!“ Die Einblendung verrät: es soll sich um den Zeitraum der zweiten, dritten und vierten Stunde dieses Fluges handeln. Ob das stimmt, ist freilich nicht verifizierbar. Die Bildeinstellung vom Klapptisch des Vordersitzes bleibt dabei stets dieselbe.

In den Stunden „5, 6 und 7“, wie eine neuerliche Texteinblendung zu erläutern weiß, ist ein bereits völlig erschöpft und entkräftet wirkendes Kind zu vernehmen.

Doch dann findet das Drama sein Ende, als der Filmer erläutern darf, dass der Flieger nun endlich in Newark angekommen sei. Fast scheint es, als möchte er verkünden, seinen Kampf ums Überleben gerade noch einmal für sich entschieden zu haben.

Das war er also, der „Horror“-Film, der gerade durch die sozialen Netzwerke und Online-Medien geistert. Doch vom Chaos ist nichts zu sehen. Denn ausgerechnet die mitreisenden Fluggäste dürften durchaus souverän mit der sicherlich nicht einfachen Situation umgegangen sein. Einige haben sogar hörbar ihr Mitgefühl für die in diesem Moment sicherlich relativ hilflose Mutter bekundet. Wirklich aufgeregt scheint sich niemand zu haben – zumindest wäre ja dann zu erwarten gewesen, dass uns der Amateurfilmer dies ebenso plakativ zur Kenntnis gebracht hätte.

Der Großteil des Videos ist dramaturgisch wenig wertvoll und besteht aus Bildmaterial wie diesem. Einzig in gehässigen Einblendungen versucht der Hobbyfilmer, sich selbst zu verwirklichen. (Screenshot YouTube)

Knappe fünf Minuten Video zeigen einige Etappen eines schreienden Kindes. Und jene einer verzweifelten Mutter, die nach Kräften versucht, diese schwierige Situation gütlich zu lösen. Keine Spur aber von Chaos, Sodom und Gomorra und ähnlichen Schreckensszenarien.

Doch halt – eines empfinde ich an diesem Filmchen wirklich dramatisch: dass hier ein Fluggast, gedeckt durch seine eigene Anonymität, öffentlich andere Menschen vorführt und deren Bilder ohne das Einverständnis der unfreiwilligen Protagonisten ungestraft zur Schau stellt. Dadurch andere, die am betreffenden Flug gar nicht mit dabei waren, zu abscheulichen Kommentaren in sozialen Netzwerken und zum zigtausendfachen Teilen des Videos anstiftet. Und sich selbst vielleicht noch wie ein Schneekönig freut, das alles wohlfein dokumentiert zu haben, was ihn nach eigenem Empfinden einige Stunden seines Komforts gekostet haben könnte.

Niemand kann bestätigen, ob es sich tatsächlich um ein „acht Stunden ohne Unterlass schreiendes Kind“ gehandelt hat. (Und jeder, der selbst Kinder hat, weiß, dass es für so einen jungen Menschen gar nicht möglich ist, ohne rasche Erschöpfung tatsächlich so lange wie am Spieß zu brüllen.)

Man muss aber nicht einmal selbst Kinder haben. Ein Funke Anstand würde schon reichen, um zu erkennen: es ist beschämend, angesichts einer solchen Situation einer ohnehin schon sichtbar verzweifelten Mutter und einem – aus welchem Grund auch immer! – hoffnungslos gestressten Kind derart eins überzuziehen, indem man sie weltweit der Lächerlichkeit preisgibt. Mit einem Video, das nicht den Funken einer Idee vermittelt, was sich tatsächlich während des achtstündigen Fluges abgespielt haben soll.

Gleichermaßen schämen sollten sich auch all jene, die als „Hobby-Psychologen“ nicht müde werden, ihre Therapievorschläge zu veröffentlichen. Dem Kind ein Schlafmittel zu verabreichen, ist dabei noch der am Harmlosesten wirkende Aufruf aus einer Fülle an Anstiftung zu Körperverletzung oder Misshandlung. Es bleibt zu hoffen, dass diese Kleingeister allesamt keinerlei Verantwortung über Kinder haben. Und sie selbst seit Geburt an wertvolle, niemandem zur Last fallende, angenehme Zeitgenossen sind. Was angesichts ihrer öffentlichen Äußerungen jedoch mehr als fraglich scheint …

(AG)

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.