Nach Erscheinen des aktuellen Lockerbie-Podcasts von Flugforensik möchte ich mit den Lesern und Leserinnen von Austrian Wings gerne eine persönliche Einschätzung zum Thema teilen.
Die Fakten sind soweit bekannt - am 21. Dezember 1988 explodierte im vorderen Frachtraum der Boeing 747-121 "Clipper Maid of the Seas" der Pan Am eine Bombe. Das Flugzeug (Registrierung N739PA) mit 259 Menschen an Bord brach innerhalb von drei Sekunden in der Luft auseinander, stürzte zu Boden und explodierte. Große Teile des Rumpfes schlugen mitten in einem Wohngebiet ein und richteten dort ein Inferno an. Am Boden starben weitere 11 Menschen, ganze Familien wurden durch die Tragödie ausgelöscht. Von einigen Opfern fand man überhaupt keine identifizierbaren Überreste mehr.
Die große Frage aber war - oder besser gesagt ist - WER für den Anschlag verantwortlich war. Offiziell verurteilt wurde nur ein einzelner Libyer, der Geheimdienstmitarbeiter gewesen sein soll. Sein Name: Abdel Basit Ali al-Megrahi.
Viele Hinterbliebene (vor allem Angehörige britischer Opfer) und sogar Juristen halten den Mann allerdings für unschuldig oder das Urteil zumindest für fragwürdig, darunter der UN-Prozessbeobachter Professor Hans Köchler. Er kritisierte den Schuldspruch umgehend als Fehlurteil, unter anderem wegen "Inkonsistenz des Arguments".
Es gab viele verschiedene Spuren, rein gar nichts im Fall der Pan Am 103 war oder ist einfach, nein, die ganze Causa ist ausgesprochen komplex. Es gab Spuren in den Iran ebenso wie nach Libyen, nach Syrien und in die palästinensische Terrorszene. Jede einzelne Theorie wird von gewissen Indizien gestützt, aber überzeugende und unwiderlegbare Beweise, die ein bestimmtes Land oder eine bestimmte (Terror-)Gruppe der Urheberschaft überführt hätten, gab es nicht.
Im kommenden Jahr soll in den USA ein Prozess gegen einen weiteren Verdächtigen starten - wieder gegen einen Libyer. Doch egal wie dieser Prozess ausgeht, es ist unwahrscheinlich, dass er wirklich nachhaltig Klarheit für die Hinterbliebenen (und die interessierte Öffentlichkeit) schafft.
Auch die beiden Journalisten Andreas Spaeth und Benjamin Denes gehen in ihrem soeben erschienenen Podcast - dessen Recherchequalität wirklich ein Musterbeispiel für hochwertigen Journalismus ist - zum Thema Pan Am 103 darauf ein, dass bis heute final nicht abschließend geklärt ist, welcher Staat oder welche Organisation für den Anschlag auf Pan Am 103 letzten Endes verantwortlich ist.
Denn wie Professor Hans Köchler - der UN-Prozessbeobachter - schon 2009 gegenüber der österreichischen Qualitätszeitung "Die Presse" sagte: "Ein Einzeltäter hätte niemals diesen Anschlag durchführen können. Für so einen Anschlag braucht es mindestens ein Dutzend Leute. Das muss angeordnet werden, man braucht eine Riesen-Logistik. Und man brauchte (wegen des Zeitzünders; Anm.) die absolute Gewissheit, dass das Gepäck umgeladen wird und die Flugzeuge rechtzeitig abheben. Das ist einfach nicht stichhaltig. Was ich nicht verstehe: Warum der Staat nicht von Amtswegen ein Verfahren gegen unbekannte Täter führt. Man darf sich nicht mit einem Sündenbock zufriedengeben, wenn klar ist, dass da ein Netzwerk dahinterstecken muss."
Auch andere Personen, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Fall befassen - darunter der schottische Rechtsprofessor Robert Black oder Jim Swire, dessen Tochter an Bord des Unglücksfluges starb, sind überzeugt, dass der verurteilte Libyer Abdel Basit Ali al-Megrahi keinesfalls der (alleinige) Täter sein kann.
Nach der Verurteiung Al Megrahis durch schottische Richter im Jahr 2001 sagte Black: "I thought this was a very, very weak circumstantial case. I am absolutely astounded, astonished. I was extremely reluctant to believe that any Scottish judge would convict anyone, even a Libyan, on the basis of such evidence."
Black betreibt zum Fall Lockerbie seit vielen Jahren ein eigenes Blog (auf Englisch) und ist zudem Admin der Facebook-Gruppe "Friends of Justice for Megrahi".
Sehr sehenswert ist außerdem die 1994 erschienene Dokumentation "The Maltese Double Cross" des angesehenen amerikanischen Filmmachers Allan Francovich († 1997).
Wir wissen nur, dass wir NICHT (gesichert) wissen, wer verantwortlich ist
Trotz meiner fast 20-jährigen Beschäftigung mit der Causa "Lockerbie" kann ich ebenso wenig wie andere Investigativ-Journalisten oder Juristen mit Gewissheit sagen, wer schlussendlich für den Bombenanschlag auf die "Clipper Maid of the Seas" und damit den Tod für 270 Menschen drei Tage vor Weihnachten 1988 verantwortlich war. Gut möglich, dass es der Iran war, gut möglich, dass Libyen dahinter steckte. Vielleicht war auch Syrien auf die eine oder andere Weise involviert. Ebenso halte ich es für plausibel, dass es womöglich eine Art "Joint Venture" zwischen mehreren Staaten und/oder Terrorgruppen war. Aber etwas aufgrund von Indizien für "möglich" oder "plausibel" zu halten, das ist eben kein Beweis. Es fehlt die - wie die Juristen sagen - "für ein Strafverfahren erforderliche Sicherheit". Wir können einfach nicht sagen, wer es war - jedenfalls nicht, bevor die Geheimdienste ihr gesamtes Wissen zum Flug Pan Am 103 mit der Öffentlichkeit teilen. Genau das wünschen sich auch viele der Hinterbliebenen der 270 Opfer, von denen etliche bereits verstorben oder hochbetagt sind. Die große Frage ist, ob die Geheimdienste ihre Archive je für die Angehörigen der Opfer öffnen werden. Aber selbst wenn sie das tun, dann ist nicht gesichert, dass die geheimdienstlichen Erkenntnisse - auch wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas Licht in die Causa bringen würden - tatsächlich ausreichen um einen ganz bestimmten Staat oder eine Terrorgruppe der Tat mit 100-prozentiger Sicherheit zu überführen. Manchmal fehlen eben die Beweise, um den oder die Täter tatsächlich der irdischen Gerechtigkeit zuzuführen. Denn im modernen Rechtssystem heißt es immer noch: "In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten".
Infos zu meinem Buch
Titel: Pan Am Flug 103: Die Tragödie von Lockerbie
Untertitel: Weihnachtsreise in den Tod
Format A5, 252 Seiten mit 129 Abbildungen
ISBN Softcover: 978-3-758447-58-7
ISBN Hardcover: 978-3-758447-63-1
Erhältlich über den Webshop des Verlages, alle großen Anbieter (Thalia, Amazon ...) sowie in jeder Buchhandlung (ggf. auf Bestellung unter Angabe der ISBN).
Text & Foto: Patrick Huber
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