Reportagen

Vergessene Auftriebshilfen: Vor fünf Jahren stürzte Spanair 5022 ab

Unfälle in der Luftfahrt sind zumeist auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückzuführen. So auch im Fall von Spanair Flug 5022. Am 20. August vor fünf Jahren stürzte die MD-82 unmittelbar nach dem Start vom Flughafen Madrid ab, wobei 154 von 172 Menschen an Bord ihr Leben verloren. Grund dafür war, dass die Piloten vergessen hatten, die Landeklappen (Flaps) sowie Vorflügel (Slats) auszufahren und das Warnsystem, das sie auf diesen Fehler hätte hinweisen sollen, außer Betrieb war. Darüber hinaus reagierten die zwei Männer im Cockpit auch noch völlig falsch, als unmittelbar nach dem Abheben aufgrund des zu geringen Auftriebs ein Strömungsabriss (Stall) einsetze und besiegelten so wahrscheinlich das Schicksal der Maschine und ihrer Insassen. Austrian Wings beleuchtet die Umstände dieser Tragödie.

Am Mittwoch den 20. August stand die MD-82 der finanziell angeschlagenen und mittlerweile insolventen Fluggesellschaft Spanair auf dem Flughafen Madrid für einen weiteren Flug bereit. Als Kurs JK 5022 sollte die 1993 ursprünglich an Korean Air ausgelieferte und fünf Jahre später von der spanischen Gesellschaft übernommene Maschine nach Las Palmas auf Gran Canaria fliegen. Die Airline war Mitglied der Star Alliance und so wurde der Flug auch unter der Lufthansa-Nummer LH 2554 im Codeshare vermarktet, weshalb sich auch deutsche Passagiere an Bord befanden.

 

In der Kabine hatten 162 zahlende Passagiere, 6 aktive und 4 außerdienstlich mitfliegende Besatzungsmitglieder Platz genommen. Mit rund 8.500 Flugstunden galt der 39-jährige Kapitän als sehr erfahren. Im rechten Sitz im Cockpit saß der Erste Offizier, 31 Jahre alt, der knapp 1.300 Stunden in seinem Flugbuch stehen hatte.

 

Der Start war für 13 Uhr vorgesehen, und um 13:10 Uhr verließ die MD-82 ihre Parkposition. Nach dem Erhalt der Startfreigabe begannen die Piloten um 13:25 Uhr mit dem Take Off Run, den sie aufgrund technischer Probleme jedoch abbrachen. Sie meldeten eine ungewöhnliche hohe Ram Air Temperature Anzeige. Die Maschine rollte auf das Vorfeld zurück und wurde von Technikern inspiziert. Währenddessen wurde bereits die Bereitstellung einer Ersatzmaschine vorbereitet, jedoch entschieden sich die Piloten abzuwarten, ob die Techniker das Problem nicht doch noch beheben konnten.

 

In dieser Zeit kommunizierte der Passagier Ruben Santano Mateo via Handy mit seiner Ehefrau Maria und teilte ihr mit, dass er das Flugzeug verlassen wollte, die Crew ihn aber nicht von Bord ließ.

 

Um 13:51 Uhr machte sich der Kapitän Sorgen um die mittlerweile beachtliche Verspätung und konsultierte die Minimum Equipement List (MEL), wonach der Flug auch ohne eine funktionierende Ram Air Temperature Anzeige durchgeführt werden konnte, wenn keine Vereisungsbedingungen vorlagen. Nach einer erneuten Rücksprache mit der Technik wurde die Sicherung Z-29 gezogen und mit einem "Inoperative"-Sticker (INOP) markiert. Um 13:57 führte der Erste Offizier über sein Mobiltelefon ein privates Gespräch mit jemandem, dem er mitteilte, dass die Maschine noch in Madrid sei und man eine enorme Verspätung habe.

 

Um 14:07 Uhr erhielten die Piloten die erneute Freigabe zum Anlassen der Triebwerke. Außer ihnen befand sich auch ein außerdienstlich mitfliegender Steward im Cockpit. Die Crew ging die "Prestart" und "Before Start" Checklisten durch, wobei einige Punkte vom Kapitän erwähnt und abgearbeitet wurden, noch bevor sie der Erste Offizier vorgelesen hatte.

 

Fünf Minuten später wurden die Turbinen gestartet und die "After Start" Checkliste konsultiert, wobei der Punkt betreffend die Position der Flaps und Slats ("Set and check the flap/slat lever and lights") ausgelassen wurde, da der Kommandant den Copiloten in diesem Moment anwies, die Rollfreigabe zu beantragen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Klappen in der Position 0 Grad, einer Stellung, die für den Start einer MD-82 in der gegebenen Konfiguration nicht vorgesehen ist, da der Auftrieb dann zu gering wäre um das Flugzeug sicher in der Luft zu halten.

 

Nachdem die Maschine zur Piste 36L gerollt war, erhielt Flug JK 5022 um 14:23 die Startfreigabe. Die Piloten setzten Take Off Power (1,95 Engine Pressure Ratio, kurz EPR) ohne bemerkt zu haben, dass die Vorflügel und Landeklappen noch immer eingefahren waren. Eigentlich hätte jetzt ein elektronisches Warnsystem die Piloten akustisch auf die fehlerhafte Konfiguration der Maschine aufmerksam machen müssen, doch diese Einrichtung war durch einen elektronischen Defekt außer Betrieb. Das Unheil nahm seinen Lauf.

 

Bei 157 Knoten (die Stall-Speed für die MD-82 in der aktuellen Konfiguration in Horizontalfluglage wurde von Fachleuten nachträglich mit 160 Knoten berechnet) wurde das Steuerhorn nach hinten gezogen und die Nase der MD-82 hob sich in den Himmel. Nur vier Sekunden später aktivierten sich der Stickshaker und die Warnung für den Strömungsabriss, was jedoch vom Ersten Offizier scheinbar fehlinterpretiert wurde. "Engine failure?" fragte er den Commander, der daraufhin nur meinte, wie man die Warnung abstellen könne.

 

Die Geschwindigkeit betrug nun 168 Knoten, die Flughöhe 25 Fuß (etwa 7,5 Meter) über Grund und die Nase zeigte 15,5 Grad nach oben. Gleichzeitig rollte die Maschine aufgrund des instabilen Auftriebs kontinuierlich nach rechts, bis sie kurzfristig eine Schräglage von 32 Grad erreichte.

 

Die korrekte Vorgehensweise bei Ertönen der Warnung für einen Strömungsabriss (Stall) wäre laut Spanair-Vorschriften folgende gewesen: Der Pilot, der die Warnung als erster bemerkt meldet: "Stall - full power", woraufhin voller Schub gesetzt, die Tragflächen horizontal und die Nase nach unten genommen werden. Dies unterblieb bei Spanair 5022 jedoch.

 

Stattdessen reduzierten die Piloten jetzt die Leistung der Turbinen eine Sekunde lang, ehe sie schließlich maximale Leistung auf beiden Schubhebeln setzten und die Triebwerke ein EPR von rund 2,20 erreichten.

 

Neun Sekunden nach dem Abheben hatte die Maschine eine Flughöhe von 12 Metern und einen Anstellwinkel von 18,3 Grad erreicht, wodurch es keine Rettung mehr gab.

 

Um 14:24:24 Uhr kollidierte die MD-82 mit einer Geschwindigkeit von 154 Knoten, einem Neigungswinkel von 10,4 Grad "Nose up" und einer Schräglage von 5,3 Grad nach rechts mit dem Boden. Eine Überwachungskamera des Flughafens zeichnete den Absturz auf.

 

Durch die Wucht des Aufpralls wurde die Maschine in mehrere Teile zerrissen, auslaufendes Kerosin sowie Hydraulikflüssigkeit entzündeten sich und verwandelten die Unglücksstelle in ein Flammenmeer.

 

Die Sekunden des Unglücks, aufgenommen von einer Überwachungskamera des Flughafens - Quelle: YouTube

 

Von den 172 Menschen an Bord starben 154, lediglich 18 (darunter drei Kinder) entkamen dem Inferno mit zum Teil schweren Brandverletzungen. Von der 6-köpfigen aktiven Crew überlebte nur eine Flugbegleiterin.

 

Da der Absturz nahe dem Flughafen erfolgt und beobachtet worden war, trafen die ersten Rettungskräfte kurz nach dem Unglück ein und begannen mit den Lösch- sowie Bergungsmaßnahmen.

 

Bergung der Wrackteile - Foto: CIAIAC
Bergung der Wrackteile - Foto: CIAIAC

 

Unmittelbar nach Abschluss dieser Arbeiten nahmen die Unfallermittler ihre Tätigkeit auf und konzentrierten sich auf die Untersuchung der Wrackteile sowie die Bergung der beiden Flugdatenschreiber.

 

In ihrem abschließenden Untersuchungsbericht vom Juli 2011 kamen die Fachleute zu dem Schluss, dass der Absturz erfolgt war, weil die Maschine kurz nach dem Start aufgrund nicht ausgefahrener Vorflügel und Landeklappen in einen überzogenen Flugzustand geriet, aus dem sie die Piloten nicht mehr rechtzeitig herausmanövrierten. Die Experten warfen den Flugzeugführern unter anderem folgende Punkte vor:

  • Bei der "Taxi"-Checkliste sei der Punkt "Flaps/Slats" nicht durchgenommen worden
  • Der Punkt "Flaps/Slats"-Position in der "After Start" Checkliste sei ebenfalls nicht abgearbeitet worden
  • Es sei verabsäumt worden, die Position des entsprechenden Wahlhebels sowie die Anzeigeleuchten für die Stellung der Klappen visuell zu überprüfen
  • Auch bei der visuellen Überprüfung im Rahmen der "Final Items" sei keinem der beiden Flugzeugführer aufgefallen, dass die Klappen auf Position 0 standen

Mit zu dem Unglück beigetragen hätten aber auch die deaktivierte "Take Off Configuration Warning" sowie ein dezidiert schlechtes "Crew Resource Management".

 

Als Konsequenz aus dem Absturz wurden 33 Sicherheitsempfehlungen erarbeitet, die derartige Unfälle künftig verhindern sollen.

 

Die Absturzstelle - Foto: CIAIAC
Die Absturzstelle - Foto: CIAIAC

 

Denn bereits in der Vergangenheit hatte es einige Abstürze beziehungsweise Beinaheabstürze aufgrund nicht (korrekt) ausgefahrener Auftriebshilfen gegeben. Nur rund ein Jahr zuvor war es der Besatzung einer MD-83 der österreichischen MAP-Jet gerade noch gelungen, den Crash zu verhindern, nachdem sie ebenfalls mit eingefahrenen Vorflügel und Landeklappen gestartet war.

 

Tragisches Detail am Rande: Die Experten kamen in nachträglich durchgeführten Computersimulationen zu dem Schluss, dass auch die MD-82 der Spanair wohl trotz eingefahrener Vorflügel und Klappen noch flugfähig gewesen wäre, wenn die Piloten den Anstellwinkel rechtzeitig auf unter 13 Grad reduziert und gemäß den geltenden Verfahren vollen Schub gegeben hätten.

 

 

 

 

 

(red CvD / Titelbild: Die Unglücksmaschine wenige Wochen vor dem Absturz in Madrid, hier aufgenommen bei der Landung auf der Piste 11 in Wien – Foto: Martin Zahrl)