Punktlandung

Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät ...?

Er kursiert derzeit durch die Medien und erhitzt die Gemüter von Flughafen- und Fluglinienmitarbeitern auf der einen Seite, sowie von diversen Möchtegern-Promis und Wichtigtuern auf der anderen. Die Rede ist vom Fall „Richard Grasl“, seines Zeichens kaufmännischer ORF-Direktor, welcher durch sein Zuspätkommen einen von Austrian Airlines durchgeführten Flug verpasst und seinem Ärger darüber öffentlich im Internet Luft gemacht hat. Uschi Blumenstrauß, ehemalige Flugbegleiterin und nun Passenger Service Agent bei einer großen Airline am Flughafen Wien, nimmt sich mit dieser ganz persönlichen Punktlandung (die sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken muss) für Austrian Wings des Falles an und gibt unseren Lesern Einblick in die Abläufe der Flugabfertigung.

Wie das Nachrichtenmagazin "Profil" und Austrian Wings berichteten, hat der für den ORF tätige Richard Grasl kürzlich einen Austrian Airlines Flug am Wiener Flughafen verpasst, da er mitsamt Kindern und Baby wohl ein paar Minuten nach Gate close am Flugsteig erschienen ist. Schuld an dieser Misere soll nun das Abfertigungspersonal sein, da man – wenn es nach der Meinung Grasls und etlicher seiner Facebook-Freunde geht - auf den „hohen Herrn” vom ORF hätte warten müssen.

Aber hätte man das wirklich tun müssen? Und macht es tatsächlich einen Unterschied, ob es sich um eine Person des öffentlichen Interesses handelt, die zu spät ans Gate kommt, oder ob es der sprichwörtliche „Herr Karl" ist?

Die Antwort auf beide Fragen lautet ganz klar NEIN. Passagier ist Passagier, zumindest was die internen Abläufe der Flugzeugabfertigung betrifft. Es gibt ganz klare Regeln und Standards, welche die Flughafenmitarbeiter in ihrer Ausbildung lernen und auch tagtäglich in die Tat umsetzen, ja umsetzen müssen, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollen.

Nun ist es tatsächlich so, dass es nicht nur „erlaubt“, sondern sogar Pflicht ist, einen fehlenden Passagier auf einem Pier-Gate 10 Minuten und auf einem Bus-Gate bereits 15 Minuten vor der geplanten Abflugszeit auszuladen, also von dem Flug zu streichen. Für den Passagier, der diese 10- beziehungsweise 15 Minuten-Frist auch lediglich um 1 Minute überschreitet und dem daher das Boarding verweigert wird, mag dies zwar ärgerlich sein (menschlich völlig verständlich), aber es liegt an jedem Einzelnen die Boardingzeit auf der Bordkarte zu lesen sowie den Informationen des Check-in Personals mehr an Bedeutung und Wichtigkeit beizumessen und folglich auch die Uhrzeit im Auge zu behalten.

Auf jeder Bordkarte ist die Boarding-Zeit klar ersichtlich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte man als Passagier am Gate sein, anderenfalls fällt es unter "eigenes Verschulden", wenn man den Flug verpasst - Foto: Wikimedia Commons
Auf jeder Bordkarte ist die Boarding-Zeit klar ersichtlich. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte man als Passagier am Gate sein, anderenfalls fällt es unter "eigenes Verschulden", wenn man den Flug verpasst - Foto: Wikimedia Commons

Ein „ich war aber noch auf der Toilette“ oder „ich wurde bei der Sicherheitskontrolle aufgehalten“ hilft dann nicht, denn es obliegt jedem Passagier selbst, die Zeit die er vom Check-in-Schalter bis zum Flugsteig benötigt, richtig einzuschätzen.

Die Wege zu den Gates sind klar beschildert.
Die Wege zu den Gates sind klar beschildert.

Daher ist es ratsam sich eher früher denn später Richtung Gate zu begeben. Besonders dann, wenn man so wie im aktuellen Fall des Herrn Grasl, mit kleinen Kindern verreist, was naturgemäß mehr Zeit benötigt. Eigenverantwortung heißt das Zauberwort, und die sollte man von erwachsenen wahlberechtigten und geschäftsfähigen Menschen wohl erwarten dürfen, oder etwa nicht?

Wer sich nun fragt, warum man je nach Gate zwischen 10 und 15 Minuten vor geplanter Abflugszeit fehlende Passagiere auslädt und ob das nicht ein wenig früh sei, so lässt sich auch dies erläutern und mit einem klaren „Nein, das ist nicht zu früh“ beantworten.

Ein komplexes "Räderwerk" im Hintergrund

Man muss sich vergegenwärtigen, dass im Hintergrund unzählige Flugvorbereitungen getroffen werden, dass viele verschiedene Mitarbeiter, die in ständigem Kontakt zueinander stehen, nötig sind um einen einzigen Flug abzufertigen, dass all das unter Zeitdruck passiert, da jede einzelne Minute Verspätung einige Tausend Euro kostet und dass diese ganzen Abläufe viel komplexer sind, als sie für den Fluggast erscheinen mögen.

Es kommt mehrmals täglich vor, dass „Zuspätkommer“ ausgeladen werden müssen und das Gatepersonal dann – oft in Form von aggressivem Verhalten und Wutanfällen seitens des Passagiers – zu hören bekommt: „Aber die Maschine steht ja noch da, Sie können mich ja wohl noch reinlassen“. Es mag so einfach erscheinen, als könnte die freundliche Dame oder der nette Herr vom Gate doch noch mal eben schnell die Türe aufmachen, der letzte Passagier läuft zum Flieger runter und alles ist gut. Aber so einfach geht das leider nicht.

Passagiere im Skylink - Foto: Austrian Wings Media Crew
Das Gate-Personal ist stets freundlich und bemüht, doch ab einer gewissen Deadline können Passagiere einfach nicht mehr akzeptiert werden.

Jeder Passagier sowie all seine aufgegebenen Gepäckstücke werden in einem Computersystem erfasst. Anhand der Daten aller Passagiere eines Fluges sowie der gesamten Beladung in Form von Koffern, Fracht aber auch des Treibstoffes, wird von der „Flight Operations“ ein sogenanntes „Loadsheet“ berechnet.

Kommt ein Passagier nicht rechtzeitig, muss sein bereits verladenes Gepäck herausgesucht und wieder ausgeladen werden, denn aus Sicherheitsgründen darf kein Gepäckstück ohne Passagier auf Reisen gehen.
Kommt ein Passagier nicht rechtzeitig, muss sein bereits verladenes Gepäck herausgesucht und wieder ausgeladen werden, denn aus Sicherheitsgründen darf kein Gepäckstück ohne Passagier auf Reisen gehen.

Daraus ist genau ersichtlich wo im Frachtraum wie viel an Gewicht geladen ist, wie viele Passagiere in den jeweiligen Sektionen der Flugzeugkabine sitzen, wobei hier mit einem Durchschnittsgewicht für Männer, Frauen und Kinder gerechnet wird. Damit ein Flugzeug sicher abheben kann und nicht etwa auf Grund einer falsch berechneten Beladung mit dem Heck am Boden streift, was schwerwiegende Folgen haben kann und in der Geschichte der Luftfahrt durchaus schon passiert ist (etwa 2007 bei einer Lauda Air Boeing 737 in Linz), ist es notwendig, dass sowohl am Check-in bei der Vergabe der Sitzplätze (denn nicht alle Flüge sind ausgebucht) als auch bei der Beladung auf die Balance und die Gewichtslimits des Flugzeuges geachtet wird.

Fehlen nun gegen Ende der Boardingzeit noch Passagiere, so muss schon rechtzeitig mit der Suche nach der von ihnen eingecheckten Gepäckstücke angefangen werden, da es bei der großen Menge an Koffern einige Zeit dauert, bis man im Frachtraum eines Flugzeuges die entsprechenden Koffer gefunden hat. Sobald diese Koffer lokalisiert wurden, werden sie ausgeladen. Kommt der fehlende Fluggast noch rechtzeitig, so wird der Koffer natürlich wieder eingeladen, schließlich sind zufriedene Fluggäste das höchste Gut jeder Airline und keine Fluggesellschaft hat Interesse daran, ihre zahlende Kundschaft zu verärgern.

Kommt ein Passagier aber auch nur um eine Minute zu spät, so muss ihm das Einsteigen verweigert werden und sein Koffer wird von Flughafenmitarbeitern zum Lost & Found gebracht, wo er dann von seinem Besitzer wieder in Empfang genommen werden kann. Wie man sich nun vorstellen kann, stimmt dann aber auch die Berechnung des Loadsheets nicht mehr. Zunächst muss das Gatepersonal auch im Computersystem die Passagiere und die betreffenden Gepäckstücke „ausladen“, damit die Flight Operations dann anhand der aktualisierten Daten ein neues Loadsheet berechnen kann. Darüber hinaus müssen für die Flugzeugcrew neue Passagierlisten ausgedruckt werden. All dies dauert natürlich einige Minuten, weshalb es nicht möglich ist, genau bis zur Abflugszeit auf noch fehlende Passagiere zu warten.

Jede Minute die ein Flugzeug am Boden steht kostet Geld und es kann auch passieren, dass aufgrund von nur wenigen Minuten Verspätung die AustroControl dem Flug einen wesentlich späteren Slot (ein Zeitfenster, in dem ein Flugzeug starten oder landen darf) zuweisen muss, dass Passagiere dadurch ihren Anschlussflug nicht mehr rechtzeitig erwischen, dass sich die Verspätung auch auf die folgenden Rotationen dieses Flugzeuges auswirken würde, oder dass zum Beispiel die maximal vom Gesetz her erlaubte Arbeitszeit der Crew überschritten würde, wodurch dann ein Crewwechsel nötig wäre, welcher die Verspätung noch drastisch verschlimmern würde. Es gibt also viele unterschiedliche Gründe, warum das Gatepersonal streng auf diese Fristen achten muss.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Natürlich gibt es auch hier, wie überall im Leben, Ausnahmen, die aber rein gar nichts mit der persönlichen Willkür des Gatepersonals zu tun haben. Sie richten sich auch nicht danach, ob es sich beim Fluggast um einen Business-Class-Passagier oder einen (Möchtegern-)VIP handelt. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Passagier zwar an und für sich zu spät am Gate erscheint, aber sein Gepäckstück im Frachtraum noch nicht gefunden wurde und dann nach interner Absprache zwischen Gatepersonal, Ramp Agent und vor allen Dingen der Flight Crew, entschieden wird, ob man diesen Passagier nicht doch noch akzeptiert, sofern dies vom Zeitmanagement her vernünftiger wäre, als durch die weitere Koffersuche eine Verspätung zu riskieren. Aber auch wenn ein Flug bereits einen späteren Slot zugewiesen bekommen hat, so kann die Flight Crew in Ausnahmefällen entscheiden, dass sie noch jemanden mit nimmt.

Dies ist nur ein grober Überblick über die Abläufe und Hintergründe, der hoffentlich bei so manchem Reisenden zum Nachdenken und vor allen Dingen zu mehr Verständnis für das Personal am Flughafen führt. Jeder ist für sich und sein Zeitmanagement selbst verantwortlich. Auch ein Herr Grasl und all diejenigen, die sich auf seiner Facebookseite hinter ihn stellen und damit ihre völlige Ahnungslosigkeit in Sachen Flugbetrieb ungeniert zur Schau stellen, während sie das Personal der AUA für dessen korrektes Handeln ungerechtfertigt kritisieren. Ganz besonders tragisch sei es ja, da er mit kleinen Kindern vereisen wollte und umso höher sei die Frechheit des Bodenpersonals gewesen. Es ist ja wirklich eine riesengroße Frechheit, dass gerade Familien mit Kindern ein Pre-Boarding angeboten wird (Achtung, Ironie!). Das tun die Fluglinien nämlich genau deshalb, weil sie wissen, dass dieses Klientel mehr Zeit benötigt. Wer diesen Service aber nicht nutzt, sondern sich lieber knapp vor Abflug mit Kind und Kegel ans Gate hetzt, der braucht dann auch keine extra Portion Mitleid zu erwarten.

Zum Abschluss noch mein Lieblingssatz in diesem Zusammenhang: Ein Zug wartet auch nicht länger! In diesem Sinne, guten Flug, und nicht vergessen: Seien Sie bitte stets zur angegebenen Boardingzeit, die auf Ihrer Bordkarte groß und deutlich angegeben ist, am Gate. Dann klappt’s auch mit einem stressfreien Start in den Urlaub und meine Kollegen und ich werden es Ihnen ebenfalls danken. ;)

Text: Uschi Blumenstrauss
Titelbild: Passagiere auf dem Weg zum Gate, Symbolbild / Alle Fotos, sofern nicht anders angegeben:  Austrian Wings Media Crew

 

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.