Der erste Zwischenbericht der Ermittler (siehe meinen Kommentar vom 12. Juli) kommt zu dem Schluss, dass unmittelbar nach dem Abheben von Air India Flug 171 die Treibstoffzufuhr beider Triebwerke unterbrochen wurde. Sekunden später erfolgte ein Neustart, doch es war zu spät, um den Crash zu verhindern. Das sind die einzig gesicherten Fakten, die bisher - zumindest für die Öffentlichkeit - auf dem Tisch liegen. In der Tat ist ein versehentliches Deaktivieren der "Fuel control switches", die sich hinter- und unterhalb der beiden Schubhebel befinden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Schon allein deshalb liegt für den Laien (und auch für manche Luftfahrer) die Annahme nahe, dass einer der Piloten sie vorsätzlich betätigte, um den Absturz des Flugzeuges herbeizuführen. Möglicherweise stellt sich dieser Schluss nach Erscheinen des Abschlussberichts (das wird noch einige Zeit dauern) sogar als korrekt heraus, doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre ich sehr vorsichtig mit einer solchen Aussage. Denn anders als im Fall des deutschen Todespiloten Andreas Lubitz, wo sehr rasch unumstößliche Fakten für die Täterschaft des psychisch kranken Ersten Offiziers vorlagen, die später durch weitere forensische Beweise gestützt wurden, liegt im Fall von Air India Flug 171 noch sehr viel im Dunkeln.
Veröffentliche Informationen sehr lückenhaft
Was wir wissen ist, dass um 08:08:42 Uhr UTC - drei Sekunden nach dem Abheben - zuerst die Treibstoffzufuhr zu Triebwerk Nummer 1 (links) und eine Sekunde danach zu Nummer 2 deaktiviert wurde. Der massive Schubverlust wurde von beiden Piloten durch den damit einhergehenden Verlust der Beschleunigung unmittelbar physisch bemerkt und gleichzeitig gingen im Cockpit eine Vielzahl optischer und akustischer Alarme an denn, denn mit dem Versagen der Triebwerke brach auch die Strom- und Hydraulikversorgung zusammen. Angesichts der vielen Warnungen, die in diesem Moment auslösten, sprechen Piloten von einem "wahren Christbaum an Warnlichtern, die da angegangen sein müssen".
Wir wissen derzeit auch NICHT was die erste Reaktion der beiden Piloten war, denn die Unfallkommission hat in ihrem Zwischenbericht KEIN vollständiges Transkript der Gespräche im Cockpit veröffentlicht. Bei einem doppelten Triebwerksausfall (ungeachtet seiner Ursache) wäre die übliche Reaktion ein sofortiger Callout des "Pilot Monitoring", in dem Fall des Kapitäns, zum Beispiel: "Both engines flame out" oder "We lost both engines, what's going on?" oder "Double engine failure", "Both engines spooled down", etc ... Ob ein solcher Callout erfolgt ist, wissen wir aber nicht, der Zwischenbericht (liegt mir vor) macht dazu KEINE Angaben. Es wäre auch nicht unüblich, dass der Kapitän in einem solchen Fall mit den Worten "My controls" die Steuerung selbst übernimmt. Ob das geschehen ist - auch das geht aus dem Zwischenbericht NICHT hervor.
Was die Unfallermittler in ihrem Zwischenbericht schreiben, ist lediglich, dass einer der beiden Piloten (aber nicht welcher) den anderen fragt, warum er die Triebwerke abgestellt habe. Die Antwort des beschuldigten Kollegen war, dass er das nicht getan habe. Wir wissen auch NICHT, ob diese Konversation ruhig, aufgeregt, panisch oder aggressiv erfolgte - auch dazu fehlen die Angaben im Zwischenbericht.
Warnung vor "Schnellschüssen"
Zugegeben, die bisher veröffentlichte Konversation könnte - zumindest auf den ersten Blick - durchaus den Schluss eines "erweiterten Suizids" durch einen der Piloten nahelegen, doch es liegen andererseits einfach zu wenig gesicherte Fakten vor (anders als bei Germanwings vor zehn Jahren), die diese These ausreichend fest stützen würden. Denn die Ermittler schreiben weiters, dass die "Fuel control switches" für BEIDE Triebwerke Sekunden nach dem Abschalten wieder in die Position "RUN" gestellt wurden. Beide Triebwerke hatten schon begonnen, wieder hochzufahren, als die Maschine Bodenkontakt hatte - die Höhe reichte einfach nicht aus,um einen Absturz zu verhindern. Von einem Streit oder einem möglichen Kampf unter den Piloten im Cockpit (der aber - logisch gedacht - zu erwarten wäre, wenn einer der beiden die Schalter tatsächlich zuvor in suizidaler Absicht betätigt hätte) ist allerdings im Zwischenbericht ebenfalls mit KEINEM Wort die Rede.
Was ebenfalls NICHT aus dem Bericht hervorgeht ist, ob die Piloten alleine im Cockpit waren oder sich vielleicht weitere Personen im Flugdeck befanden - etwa Flugbegleiter oder außerdienstlich mitfliegendes Cockpitpersonal. Es gab in der Vergangenheit schon Fälle (einen besonders dramatischen schildere ich ebenfalls in meinem Buch "Germanwings Flug 9525 - Absturz in den französischen Alpen"), in denen autorisiert im Cockpit befindliche Mitarbeiter von Fluglinien (aber eben NICHT die Piloten im Dienst) versucht hatten, das Flugzeug vorsätzlich zum Absturz zum Absturz zu bringen. Ebenfalls noch nicht endgültig ausgeschlossen (wenn rein statistisch betrachtet auch eher unwahrscheinlich) ist ein mögliches technisches Problem, etwa ein Versagen der Software zur Steuerung der "Fuel control switches".
Selbst die Unfallermittler haben es zum aktuellen Zeitpunkt vermieden, explizit einen der Piloten als Verantwortlichen für das Herunterfahren beider Triebwerke zu benennen. Der Schnellschuss "Beide Triebwerke abgeschaltet, das kann nur einer der Piloten in Selbstmordabsicht getan haben", ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt und mit dem aktuell veröffentlichten Kenntnisstand jedenfalls unzulässig und unseriös, selbst wenn er sich zu einem späteren Zeitpunkt doch noch als richtig herausstellen sollte. Schlagzeilen wie "Alles deutet auf einen Piloten-Suizid hin", sind daher im Moment unangemessen, weil sie in der Aussage an sich falsch sind. Diese Einschätzung wird auch von einem befreundeten Ausbildungskapitän, mit dem ich den Vorfall gestern und heute intensiv diskutiert habe, geteilt.
Vielleicht kommt demnächst heraus, dass einer der Piloten schwere psychische Probleme hatte und die Tat tatsächlich ein erweiterter Pilotensuizid war. Mit Stand heute liegen dafür jedoch - basierend auf den veröffentlichten Erkenntnissen - keine belastbaren Indizien vor. Ich wäre daher sehr vorsichtig, schon jetzt von einem Pilotensuizid als gesicherte Absturzursache zu sprechen.
Intensive Ermittlungen laufen
Was aber geschieht nun weiter? Abseits der Öffentlichkeit arbeitet ein internationales von Indien geleitetes Ermittlerteam an der Aufklärung des Unfalls. Dazu wird nicht nur das Wrack der Boeing 787 genau untersucht, sondern es werden auch die Lebensläufe, das persönliche Umfeld, die körperliche und vor allem psychische Gesundheit der beiden Piloten genau unter die Lupe genommen. Hatte jemand in der Vergangenheit Depressionen? Hatte ein Pilot Schulden oder berufliche Probleme? Wurde er kürzlich von seiner Partnerin verlassen, verlor er die Wohnung, stand er kurz vor der Kündigung, etc...?
Da wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Man will schließlich herausfinden, ob einer der beiden Männer in der "ersten Reihe" einen Grund für so eine Wahnsinnstat gehabt hätte - wie Andreas Lubitz 2015. Zusätzlich werden Softwareingenieure, da bin ich mir sicher, auch die in der Boeing 787 zum Einsatz kommende Software noch einmal auf Herz und Nieren prüfen, auch wenn derzeit viel darauf hindeutet, dass sie nicht die Ursache war.
Erst danach wird es einen Abschlussbericht geben, der entweder die Ursache für das Herunterfahren der beiden Triebwerke lückenlos erklären oder aber zumindest eine belastbare These liefern kann, was mit "hoher Wahrscheinlichkeit" geschehen ist.
Das alles braucht freilich seine Zeit. Experten rechnen in frühestens einem Jahr mit dem Erscheinen dieses Abschlussberichtes. Bis neue GESICHERTE Erkenntnisse vorliegen, ist es aber definitiv zu früh, einem der Piloten die Schuld zuzuweisen.
Text & Foto: Patrick Huber
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