Reportagen

Vor 20 Jahren verunglückte der Lufthansa-A320 "Kulmbach" in Warschau

Der Name Lufthansa steht gemeinhin für die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit, für Qualität die höchsten Ansprüchen gerecht wird, und ein sicheres, komfortables Flugerlebnis. Seit dem Jahr 1979 hatte die Fluggesellschaft keinen tödlichen Unfall mehr zu verzeichnen gehabt. Am 14. September 1993 aber verunglückte dann ein A320 der Gesellschaft bei der Landung in Warschau und erschütterte das Vertrauen der Öffentlichkeit in die heutige AUA-Konzernmutter. Unfallursache war - wie so oft in solchen Fällen - eine Verkettung unglücklicher Umstände, zu denen auch menschliches Versagen gehörte. Dadurch verloren zwei Menschen ihr Leben, 68 überlebten.

An diesem Tag, einem Dienstag im Herbst des Jahres 1993, war der Airbus A320-211 mit dem Kennzeichen D-AIPN und dem Taufnahmen "Kulmbach" für die Rotation Frankfurt - Barcelona - Frankfurt - Warschau - Frankfurt vorgesehen. Im Cockpit befanden sich die Kapitäne Michael Lübbert und Hans-Jörg Hansen. Lübbert besetzte den linken Sitz, Hansen den rechten und agierte als Checkkapitän. Beide Männer waren äußerst erfahrene Piloten.

Der 47-jährige Lübbert hatte 12.778 Flugstunden Erfahrung, davon 1.440 auf dem A320. Zuvor war er Boeing 707 und 727 geflogen. Sein gleichaltriger Kollege Hansen verfügte über eine Gesamtflugerfahrung von 11.361 Stunden, wovon er knapp 1.600 Stunden auf dem A320 geflogen war. Den Großteil seiner Erfahrung hatte aber auch er in den konventionellen Dreimann-Cockpits der Muster Boeing 707 und 727 gesammelt.

Die ersten beiden Legs an diesem Tag verliefen ereignislos. Um 14:27 Uhr UTC hob die "Kulmbach" in Frankfurt am Main ab und nahm Kurs auf Warschau.

Zwischen 15:08 Uhr und 15:11 Uhr fragten die beiden Piloten mehrmals über ATIS das Wetter in Warschau ab, wo zu diesem Zeitpunkt herbstliche Bedingungen mit Regen und starken Winden herrschten. Die Flugverkehrskontrolle in Warschau gab die "Kulmbach" zum Sinkflug frei.

Um 15:25 Uhr erhielt die Besatzung dann auch die Freigabe für den ILS-Anflug auf die 2.800 Meter lange Piste 11. Fünf Minuten später meldeten die Piloten, dass sie das ILS interceptiert hätten und der Anflug stabil sei. Der Fluglotse wies Lübbert und Hansen an, den Tower auf der Frequenz 121.6 MHz zu rufen.

Der Towerlotse informierte die Besatzung der "Kulmbach" lediglich über einen Wind aus 160 Grad mit einer Geschwindigkeit von 2 bis 5 Stundenkilometern, allerdings waren von den Piloten zuvor gelandeter Maschinen auch gefährliche Scherwinde gemeldet worden.

Flug 2904 bestätigte den Erhalt dieser Meldung und setzte den Anflug fort. Um 15:32 Uhr erhielt die Maschine ihre Landefreigabe, Fahrwerk und Klappen (35 Grad) waren ausgefahren, die Geschwindigkeit über Grund betrug 168 Knoten. Die Piloten steuerten den Jet manuell.

Die Landung

Obwohl sich die Windverhältnisse während des Endanfluges kurzfristig änderten und ein Durchstartmanöver indiziert gewesen wäre, setzte die "Kulmbach" den Anflug fort, was dazu führte, dass der A320 erst nach 770 Metern mit dem rechten Hauptfahrwerk zuerst auf der Piste aufsetzte. Denn Lübbert hatte - gemäß Handbuch - die rechte Fläche "in den Wind gehängt", der zu diesem Zeitpunkt mit rund 30 Stundenkilometern seitlich von hinten blies.

Die Piloten betätigten die Radbremsen, fuhren Spoiler und Schubumkehr aus, doch der gewünschte und erwartete Verzögerungseffekt blieb aus. Die Radbremsen versagten aufgrund eines aquaplaningähnlichen Phänomens den Dienst, während Spoiler und Schubumkehr sich gar nicht erst aktivieren ließen. Die Dialoge im Cockpit offenbaren die Hilflosigkeit der Piloten in diesen Momenten auf dramatische Art und Wiese.

"Assist me braking ..." sagte Lübbert zu Hansen, gefolgt von der Feststellung "Poor braking ..."

"Reverser open?", fragte Hansen, sichtlich verwundert über die schlechte Verzögerung der Kulmbach. "Ja, voll", antwortete Lübbert. "100 Knoten" meldete Hansen, "weiterbremsen", kam es von Lübbert zurück.

Hilflos saßen die Piloten in ihrem Cockpit und konnten rein gar nichts tun, während hinter ihnen in der Kabine schon etliche Fluggäste die vermeintlich gelungene Schlechtwetterlandung beklatschten, wie der "Spiegel" später berichten sollte.

Was Lübbert und Hansen nicht wussten, war, dass die Computerlogik des Airbus diese Bremshilfen aber erst dann freigab, wenn beide Hauptfahrwerke Bodenkontakt hatten. Bei einer Boeing 727 oder 737 hätten sich diese aerodynamischen Bremsmittel nach dem Kenntnisstand des Verfassers auch in dieser Situation bereits aktivieren lassen, nicht jedoch im modernen A320. Bis auch das linke Fahrwerk endlich aufsetzte, waren schon 1.525 von 2.800 Metern Piste verbraucht. Erst jetzt ließen sich Spoiler und Schubumkehr ausfahren, doch es war zu spät.

Der "Spiegel" schrieb dazu am 22. November 1993: "Das Airbus-Pilotenhandbuch, in welchem der Hersteller die Technik und Bedienung der Maschine erläutert, 'wimmelt', wie sich ein Lufthansa-Pilot ausdrückt, 'von unpräzisen Allgemeinplätzen und einander widersprechenden Aussagen'. Dazu der Pilot: 'Man läuft ins Leere.'"

Und weiter hieß es in dem Artikel:

"Auch die Erläuterungen zur Landelogik des Airbus A320 nehmen sich offenbar so verworren aus, daß erst eine Anfrage der Lufthansa fünf Wochen nach dem Unglück von Warschau Klarheit darüber brachte, unter welchen Voraussetzungen der Computer zuläßt, daß Schubumkehr und Störklappen ihre Bremswirkung entfalten. Heißt es im Pilotenhandbuch der Lufthansa-Crews etwa, daß wenigstens eines ("at least one") der Hauptfahrwerke Landebelastung melden muß, um die Schubumkehr auszufahren, so stellte Airbus in seinem Antwortschreiben an die Lufthansa vom 28. Oktober klar, daß beide Fahrwerke ("Right and Left Main Gear") das Landesignal geben müssen. Als Konsequenz aus dem Warschau-Unglück hat die Lufthansa ihre Piloten Anfang dieses Monats angewiesen, bei nassen und schneebedeckten Bahnen nur noch mit der Landeklappenstellung "3" (20-Grad-Stellung) zu landen. In dieser Stellung der Flaps behält der Pilot die Freiheit, den Bordcomputer auszutricksen und zumindest einen Teil der Störklappen per Hand auszufahren."

Der Crash

Mit 133 Stundenkilometern Geschwindigkeit war der A320 jetzt zu langsam um auf der verbleibenden Piste noch sicher durchstarten zu können und zu schnell um ihn sicher zum Stillstand zu bringen. Die Maschine raste die Piste entlang, an deren Ende sich ein Erdwall befand.

"Scheiße, was machen wir jetzt", fragte Lübbert. "Kannst nix machen, dreh sie weg! Dreh sie weg!", rief Hansen seinem Kollegen auf dem linken Sitz noch verzweifelt zu. Es waren seine letzten Worte. Um den Hügel nicht frontal zu rammen, steuerte Lübbert in einem verzweifelten Versuch, eine Katastrophe abzuwenden, nun nach rechts.

"Scheiße!" schrie Lübbert noch. Dann prallte die "Kulmbach" mit der linken Tragfläche auf den Erdwall, zerbrach in mehrere Teile und fing Feuer. Kapitän Hansen auf dem rechten Sitz wurde durch die Wucht des Aufpralls die Aorta vom Herzen abgerissen, er war sofort tot. Das zweite Todesopfer war ein Passagier der Business Class, der vermutlich seinen Gurt bereits geöffnet hatte.

Die übrigen 68 Menschen an Bord konnten sich retten, 62 von ihnen wurden verletzt, 54 mussten in acht verschiedene Krankenhäuser eingeliefert werden. Auch zwei der Flugbegleiter waren verletzt worden, sodass ihre verbliebenen zwei Kollegen die Passagiere alleine in Sicherheit bringen mussten. Der Purser beispielsweise hatte schwere Rückenverletzungen erlitten und vorübergehend sogar das Bewusstsein verloren.

Die Bilder der brennenden "Kulmbach" waren am Abend in den Nachrichten zu sehen und sorgten bei Angehörigen der Passagiere und in Lufthansa-Kreisen für Fassungslosigkeit. Wie hatte das nur mit einem der modernsten Flugzeuge der Welt, gesteuert von zwei erfahrenen Kapitänen einer der renommiertesten Airlines Europas, geschehen können?

Das Wrack am 15. September - Foto Mariusz Siecinski / Wiki Commons
Das Wrack am 15. September - Foto Mariusz Siecinski / Wiki Commons

Ursachenforschung

Unverzüglich nach dem Unfall begannen polnische und deutsche Unfallermittler mit ihrem Untersuchungen. Der Abschlussbericht kam zu dem Schluss, dass die Cockpitbesatzung mehrere Fehler begangen habe.

Sie habe unter anderem die plötzlich einsetzenden Scherwinde weder angemessen berücksichtigt noch diskutiert. Weiters habe der den Funkverkehr abwickelnde Pilot Non Flying (Kapitän Hansen) seinen das Flugzeug manuell steuernden Kollegen nicht ausreichend vor den Schwerwinden und der Seitenwindkompenente von mehr als 10 Knoten gewarnt, und schlussendlich hätten es die Piloten auch verabsäumt, rechtzeitig ein Durchstartmanöver einzuleiten.

Kritik übten die Ermittler aber auch den Fluglotsen im Tower von Warschau, die unzureichende, weil nicht aktuelle, Wetterdaten an die Crew im Cockpit der "Kulmbach" weitergeleitet hätten.

Und last but not least habe das damalige Design des A320 mit zum Unfall beigetragen, weil die Bremssysteme erst bei einem Belastungsdruck der Fahrwerke von 12 Tonnen und wenn die Räder sich drehen aktiviert werden konnten.

Durch das zuerst erfolgte Aufsetzen des rechten Hauptfahrwerkes und das Aquaplaning wurde jedoch nur ein geringer Belastungsdruck erreicht und die Räder drehten sich so langsam, dass das Flugzeug für die Logik des Airbus-Computers schlichtweg noch in der Luft und nicht am Boden war.

Als dann endlich alle Bremssysteme genutzt werden konnten, war die verbleibende Piste zu kurz um den A320 noch zum Stillstand bringen zu können.

Verbesserungen

Als Konsequenz aus dem Unglück von Warschau wurden die interne Schulung der Piloten und die Handbücher verbessert. Außerdem erhielt die Software des A320 ein Update, wodurch der notwendige Aufsetzdruck für die Aktivierung der Bremshilfen von 12 auf 2 Tonnen gesenkt wurde. Seither hat sich kein vergleichbares Unglück mit einem Flugzeug der A320 Familie mehr ereignet.

(red CvD / Titelbild: Lufthansa Airbus A320, Symbolbild - Foto: Austrian Wings Media Crew)