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Erster Offizier "incapacitated" - Lufthansa Maschine 10 Minuten lang als "Geisterflug" unterwegs

Dieser Airbus A321 war 10 Minuten lang als "Geisterflug" unterwegs - Foto: Austrian Wings Media Crew (keine Verwendung des Bildes ohne Erlaubnis, Zuwiderhandlungen werden kostenpflichtig geahndet).

Ein ernster Zwischenfall aus dem Vorjahr, der jetzt durch die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts öffentlich bekanntgeworden ist, könnte eine neue Diskussion um die Sicherheit im Cockpit auslösen. Zehn Minuten lang war ein A321 der Lufthansa als "Geisterflug" unterwegs, nachdem der sich zu diesem Zeitpunkt alleine im Cockpit befindliche Erste Offizier einen medizinischen Notfall erlitten hatte. Erst nach mehreren Versuchen konnte sich der Kapitän wieder Zutritt zum Cockpit verschaffen, in dem er den Notfallcode eingab. Die Unfallermittler empfehlen nun eine Neuevaluierung der nach dem Germanwings-Absturz eingeführten, später aber wieder abgeschafften Zwei-Personen-Regel im Cockpit.

Mit 199 Passagieren in der Kabine, 2 Piloten im Cockpit und 4 Flugbegleitern flog Lufthansa Flug 1140 am 17. Februar 2024 von Frankfurt nach Sevilla in Spanien. Der Kapitän war 43 Jahre alt und im Besitz des Verkehrspilotenscheins ATPL (A), der Erste Offizier 38 Jahre und Inhaber einer MPL (A) Lizenz.

Die Reise des Airbus A321-200 (D-AISO) verlief zunächst routinemäßig. Als sich die Maschine vom Autopiloten gesteuert in einer Höhe von 35.000 Fuß (Flugfläche 350) etwa 88 nautische Meilen (circa 163 Kilometer) nordöstlich von Madrid befand, verließ der Kapitän in Absprache mit dem Ersten Offizier das Cockpit und begab sich zur vorderen Toilette. Es war 10:31 Uhr UTC. Diese Vorgehensweise stand in völliger Übereinstimmung mit den flugbetrieblichen Vorschriften der Lufthansa. Zuvor übergab der Kapitän die Steuerung des Flugzeuges sowie die Kommunikation mit der Flugsicherung formal offiziell an seinen Kollegen.

Erster Offizier durch medizinischen Notfall völlig handlungsunfähig - mehrere Warnsysteme im Cockpit schlugen an
Doch was dann geschah, hätte schlimmer Auswirkungen, möglicherweise sogar den Absturz des Flugzeugs zur Folge haben können. Etwa 30 Sekunden nachdem der Kapitän das Cockpit verlassen hatte, erlitt der Erste Offizier ein schweres medizinisches Problem, einen nicht näher beschriebenen "Anfall", möglicherweise neurologischer Ursache. Dabei betätigte der Erste Offizier auch unbeabsichtigt Schalter sowie Einrichtungen der Flugsteuerung. Mehrere Warnungen - darunter die "MASTER CAUTION" und die "MASTER WARNING" aktivierten sich deshalb sogar.

Glücklicherweise blieben der Autopilot und die automatische Schubkontrolle trotzdem weiterhin aktiviert. Der Anfall des Piloten war sogar derart heftig, dass er nicht imstande war, über die Intercomanlage die Flugbegleiter und damit indirekt auch den Kapitän von seiner Notlage zu unterrichten. Der in der Kabine auf der Toilette befindliche Kommandant, die sechs Flugbegleiter und auch die Passagiere ahnten folglich nichts von den dramatischen Szenen, die sich gerade im Cockpit abspielten und die den Flug 1140 zum Geisterflug werden ließen. Denn auch die Flugsicherung konnte die Maschine nun nicht mehr erreichen. Hätte sie eine Kursänderung angewiesen oder wäre ein Ausweichmanöver bei Annäherung eines anderen Luftfahrzeuges erforderlich geworden - niemand hätte reagieren können. Rund 10 Minuten flog der A321 so als führerloses "Geisterflugzeug" durch den spanischen Luftraum.

Erster Offizier im Cockpit, Symbolbild. Im Fall von LH 1140 verlor der Co-Pilot aus medizinischen Gründen seine Handlungsfähigkeit, weshalb das Flugzeug zum "Geisterjet" wurde.

Fünfmalige Code-Eingabe und Versuch der Kontaktaufnahme erfolglos
Als der Kapitän um 10:39 Uhr UTC - also nach 8 Minuten - ins Cockpit zurückkehren wollte, gab er zunächst den Standardcode am Tastenfeld vor der Cockpittür ein, um seiner Zutrittsbitte Ausdruck zu verleihen. Das ist die übliche Vorgehensweise und löst im Cockpit eine Art "Klingelton" aus. Man könnte es auch als "anläuten" bezeichnen.

Der dort verbliebene Kollege überprüft dann üblicherweise mit einem kurzen Blick auf den Monitor, dass alles in Ordnung ist und entriegelt danach die Tür zum Flugdeck. Doch das geschah in diesem Fall nicht. Der Kapitän dachte sich dabei zunächst noch nichts Schlimmes, sondern nahm an, dass er selbst sich vielleicht vertippt habe oder sein Kollege gerade mit Funkverkehr beschäftigt sei und deshalb nicht sofort reagieren könne. Insgesamt vier weitere Male gab er den Code ein, doch seitens des Ersten Offiziers erfolgte wiederum keine Reaktion. Währenddessen versuchte ein Mitglied der Kabinenbesatzung, den Ersten Offizier im Cockpit via Intercom zu erreichen, doch der Pilot im Cockpit reagierte auf diesen Anruf ebenfalls nicht. 

Erinnerungen an Germanwings-Absturz
Was dem Kapitän und den Flugbegleitern in diesen Momenten durch den Kopf gegangen ist, wissen wir freilich nicht, aber zu diesem Zeitpunkt war die Situation nahezu ident wie jene auf Germanwings Flug 9525 zehn Jahre zuvor. Damals hatte sich der psychisch kranke Co-Pilot Andreas Lubitz im Cockpit eingesperrt, die Tür zum Cockpit verriegelt und auf alle Kontaktversuche aus der Kabine nicht mehr reagiert, während er das Flugzeug vorsätzlich zum Absturz brachte.

Funktionsweise des Verriegelungssystems der Cockpittür
Bevor ich ausführe, wie der Kapitän im Fall von Flug LH 1140 weiter vorging, möchte ich zum besseren Verständnis auf den Verriegelungsmechanismus der Cockpittür eingehen. Seit den radikal-islamischen Terroranschlägen von 9/11 sind die Türen zum Flightdeck moderner Verkehrsflugzeuge hermetisch verriegelt und zusätzlich gepanzert. Es ist völlig unmöglich, sie aufzubrechen. Die nachfolgende Erklärung ist im Wesentlichen ein Auszug aus meinem Buch "Germanwings Flug 9525 - Absturz in den französischen Alpen", in dem ich diese Thematik in einem eigenen Kapitel ausführlich behandle. 

Grundsätzlich kann jede Fluggesellschaft die Parameter für das Verriegeln beziehungsweise Entriegeln der Cockpittür innerhalb eines gewissen Rahmens selbst definieren. Generell gilt: Um von der Passagierkabine aus Zutritt zum Cockpit zu erhalten, muss an einem Tastenfeld bei der Cockpittür ein Zugangscode eingegeben werden. Danach ertönte im Flugdeck kurz das akustische Signal eines Summers ("Klingelton"), das die Piloten darüber in Kenntnis setzt, dass jemand aus der Kabine (eben ein Flugbegleiter oder ein von einem Toilettenbesuch zurückkehrender Pilot) Zutritt zum Cockpit erhalten möchte. Nach einem prüfenden Blick auf die mit den Überwachungskameras außerhalb des Cockpits verbundenen Monitore haben der oder die Piloten im Cockpit dann mehrere Optionen. Zum Entriegeln der grundsätzlich im geschlossenen Zustand immer verriegelten Cockpittür bewegen sie den dafür vorgesehenen Kippschalter in die Position „UNLOCK“ und halten ihn in dieser Stellung. Dadurch wird die Tür entriegelt und das akustische Signal stoppt. Auf der Tastatur vor dem Cockpit leuchtet eine grüne LED-Anzeige und signalisiert der Person, die Zutritt begehrt, dass die Tür jetzt entriegelt ist. Nun kann die Tür von Außen durch Drücken geöffnet werden.

Durch den medizinischen Notfall konnte der Erste Offizier minutenlang nicht einmal den Schalter zum Entriegeln der Cockpittür betätigen.

Entscheiden sich die Piloten im Cockpit aber dafür, der Person in der Kabine den Zutritt zu verweigern, stellen sie den Schalter für die Türverriegelung einmal auf „LOCK“. Dadurch bleibt nicht nur die Tür verriegelt, sondern es verstummt auch das durch Eingabe des Codes im Cockpit ausgelöste akustische Signal sofort. Auf dem Tastenfeld vor dem Cockpit leuchtet eine rote LED-Anzeige auf. Außerdem wird durch Betätigung des Schalters im Cockpit auf „LOCK“ jegliche Funktion der Tastatur zum Eingeben eines Zutrittscodes für fünf Minuten unterdrückt.

Zweiter Code für den Notfall
Für den Fall, dass nach Eingabe des regulären Zutrittscodes die Tür zum Flugdeck nicht entriegelt wird - etwa weil der im Cockpit befindliche Kollege handlungsunfähig ist, wie es bei LH 1140 der Fall war - gibt es die Möglichkeit, einen Notfallcode einzugeben. In diesem Fall ertönt nach dessen Eingabe das akustische Signal im Cockpit durchgehend für eine vordefinierte Zeit (in der Regel 15 Sekunden, manchmal auch länger) und die grüne LED-Anzeige an der Eingabe-Tastatur fängt zu blinken an. Außerdem beginnt die „OPEN“-Anzeige neben dem Schalter für die Cockpittür auf der Konsole der Piloten zu blinken. Reagiert die Besatzung im Cockpit nun nicht innerhalb eines vordefinierten Zeitraumes (üblicherweise 15 bis 30 Sekunden), wird die Tür zum Flugdeck danach ganz automatisch für einen Zeitraum von zumeist 5 Sekunden entriegelt, was auch durch das Leuchten der grünen LED-Anzeige auf dem Tastenfeld neben der Cockpittür in der Kabine angezeigt wird. In diesem Zeitraum kann sie von der Kabine aus geöffnet werden.

Mit Notfallcode ins Cockpit
Doch zurück zu LH 1140 vom 17 .Februar 2024. Nachdem der Erste Offizier auf die mehrfache Eingabe des Zutrittscodes und Anrufversuche nicht reagiert hatte, gab der Kapitän schließlich den oben erwähnten Notfallcode ein, um sich Zutritt zum Flugdeck zu verschaffen. Unmittelbar, bevor sich die Tür automatisch öffnete, entriegelte sie der wieder einigermaßen handlungsfähige Erste Offizier vom Cockpit aus und der Kapitän konnte zurück an seinen Arbeitsplatz. Um 10:42 Uhr UTC - also nach rund 10 Minuten "Geisterflug" - saß wieder ein handlungsfähiger Flugzeugführer im Cockpit von von Flug LH 1140. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Flugzeug etwa 93 Kilometer südöstlich von Madrid.

Sicherheitslandung zur medizinischen Versorgung des Co-Piloten
Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Ersten Offiziers (er schwitzte und machte seltsame Bewegungen) entschied sich der Kapitän, nicht bis Sevilla weiterzufliegen, sondern am deutlich näher gelegenen Flughafen Madrid eine Sicherheitslandung durchzuführen, wo der A321 kurz darauf sicher landete und der Erste Offizier medizinisch behandelt wurde. Noch in der Luft hatten die Kabinenbesatzung und ein zufällig mitreisender Arzt Erste Hilfe geleistet.

Diskussion um Zwei-Personen-Regel neu entfacht
In ihrem Bericht regen die spanischen Flugunfallermittler an, die Zwei-Personen-Regel im Cockpit neu zu evaluieren. Sie wurde in Europa nach dem 149-fachen Mord durch Andreas Lubitz auf Germanwings Flug 9525 eingeführt und besagt, dass sich immer zwei autorisierte Besatzungsmitglieder während des Fluges im Cockpit aufhalten müssen. In der Praxis bedeutet dies, dass, sobald einer der Piloten das Flugdeck verlässt, ein Flugbegleiter ins Cockpit kommen und seinen Platz einnehmen muss. Allerdings erfolgte recht rasch eine Neuevaluierung und eine Aufhebung dieser Regel, da sie laut Einschätzung der EASA mehr Risiken als Nutzen bot. Innerhalb der Pilotenschaft wird sie seit jeher kontrovers diskutiert. Für mein Buch über den Germanwings-Absturz befasste ich mich intensiv mit dem Thema und sprach mit mehreren Verkehrspiloten. Einige stehen ihr neutral gegenüber, manche lehnen sie ab, wieder andere sehen in ihr durchaus einen Sicherheitsgewinn. Aktuell ist ist sie in Europa nicht verpflichtend. Es bleibt den einzelnen Airlines allerdings unbenommen, sie einzuführen.

Text & Fotos: Patrick Huber