Punktlandung

Kommentar: Günter Lubitz und seine Flucht vor der grausamen Realität

Günter Lubitz (links), Vater des Todespiloten Andreas Lubitz

Zwei Jahre und einen Tag ist es nun her, dass ein Germanwings-A320 in den französischen Alpen abstürzte. Dabei starben alle 150 Menschen an Bord. Für die deutschen und französischen Strafverfolgungsbehörden und Ermittler gibt es keinen Zweifel daran, dass der psychisch kranke Erste Offizier Andreas Lubitz (27) die Tragödie verursacht hat, als der Kapitän das Cockpit verlassen hatte. Sein Vater Günter Lubitz (63) will das allerdings bis heute nicht wahrhaben. Gestern präsentierte er auf einer Pressekonferenz in Berlin ein von ihm in Auftrag gegebenes und bezahltes Gutachten des Luftfahrtexperten Tim van Beveren, das seinen Sohn entlasten soll. Doch viel Substantielles wurde nicht geboten, vielmehr erinnerte die Veranstaltung an das Werfen von "Nebelgranaten", um von den bekannten Fakten abzulenken.

"Die Kollision mit dem Boden wurde durch eine bewusste und geplante Handlung des Copiloten verursacht, der entschieden hatte Suizid zu begehen während er alleine im Cockpit war. Das flugmedizinische Zulassungsverfahren von Piloten, insbesondere die Selbstanzeige im Falle einer Einschränkung der medizinischen Tauglichkeit zwischen zwei periodischen medizinischen Untersuchungen, hat den Copiloten nicht daran gehindert, die Rechte seiner Lizenz zum Führen eines Luftfahrzeuges auszuüben, obwohl er an einer psychischen Störung mit psychotischen Symptomen litt."

So unmissverständlich äußert sich die französische Flugunfalluntersuchungsstelle BEA zur Ursache des Absturzes der Germanwings-Maschine. Für den Vater des beschuldigten Co-Piloten Andreas Lubitz, Günter Lubitz, ist die Sache dagegen nicht so eindeutig. Er sieht seinen Sohn durch offizielle Instanzen und Medien vorverurteilt und beauftragte Tim van Beveren, ein eigenes Gutachten zu erstellen, das gestern in Berlin (auszugsweise) präsentiert wurde.

Und tatsächlich gelang es van Beveren, einige durchaus brisante Ungereimtheiten in der offiziellen Ermittlung aufzudecken. Das war auch nicht anders zu erwarten, ist doch der studierte Jurist Tim van Beveren ein gestandener Investigativjournalist, Buchautor, Pilot, Filmemacher und Gutachter in Luftfahrtangelegenheiten mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, der schon so manchen Skandal in Sachen Flugsicherheit aufgedeckt hat. So steht aufgrund von van Beverens Recherchen nun etwa der nicht unbegründete Verdacht im Raum, dass das Panel, auf dem der Notfallcode für den Zutritt zum Cockpit eingegeben werden kann, defekt war und der Kapitän deswegen den Notfallcode gar nicht eingeben konnte. Ebenso gibt es (juristisch) berechtigte Zweifel an der Gültigkeit der Zulassung des Flugzeuges selbst. Hier werden wohl nun die Behörden gegen die verantwortlichen Stellen bei Germanwings (Vor-) Ermittlungen einleiten (müssen), wenngleich ich die Einschätzung von Gutachter van Beveren, dass ein Prozess gegen Lubitz mit einem Freispruch enden würde, nicht teile - ganz im Gegenteil.

Und dann sind da laut Gutachten noch Daten, die der Flugschreiber aufgezeichnet hat, die es so gar nicht geben dürfte, oder der Umstand, dass es kaum möglich sein dürfte, die Höhe am Autopiloten innerhalb von einer Sekunde von 38.000 auf 100 Fuß zu ändern. Für diese Änderung (unabhängig davon ob der Zeitraum mit 1 Sekunde zutreffend ist oder nicht) präsentierte van Beveren mehrere Erklärungsmöglichkeiten - so habe Lubitz unter Umständen die Flughöhe wechseln wollen, um einer schweren Clear Air Turbulence auszuweichen.

Der studierte Jurist Tim van Beveren wurde von Familie Lubitz mit der Erstellung eines neuen Gutachtens beauftragt

Dass Pilot Lubitz dabei keinen Kontakt mit der Fugsicherung aufgenommen habe, begründete der Gutachter mit dem Grundsatz "Aviate, Navigate, Communicate", der in Cockpits gilt. Doch diese Argumentation geht gleich in mehrfacher Hinsicht ins Leere, wie ein von Austrian Wings konsultierter pensionierter A320-Kapitän erläutert: "Erstens würde man im Unfallgebiet niemals ohne Freigabe durch die Flugsicherung einfach so sinken um einer Turbulenzzone auszuweichen, da möglicherweise nur 1.000 Fuß unterhalb ein anderes Flugzeug fliegt und die Gefahr einer Kollision besteht. Der Luftraum über Südfrankreich gleicht einem Wespennest. Das wäre russisches Roulette. Zweitens würde man nicht 100 Fuß am Autopiloten einstellen, sondern nur die Höhe, auf die man auch tatsächlich zu sinken beabsichtigt."

Günter Lubitz, ein verzweifelter Familienvater, der sich nun, zwei Jahre nach der Tragödie, mutig dem Blitzlichtgewitter und den Fragen der Journalisten stellte (wofür ihm großer Respekt gebührt), wurde angesichts der vom Gutachter aufgedeckten Ungereimtheiten nicht müde, zu betonen, dass sein Sohn zum Zeitpunkt des Absturzes "gesund und lebensfroh" gewesen sei - und, dass es eben "keinen einzigen handfesten Beweis" für dessen Schuld gebe.

Dabei übersieht oder ignoriert Günter Lubitz nur leider sämtliche Faktoren, die gegen seinen Sohn sprechen und die allemal belastbarer sind, als die (bisher präsentierten) Feststellungen aus dem neuen Gutachten:

  • Andreas Lubitz litt nachweislich von 2008 bis 2009 unter Depressionen und war suizidgefährdet - deshalb musste er sogar seine Ausbildung zum Verkehrspiloten beim Lufthansa-Konzern unterbrechen
  • Nachdem er als geheilt galt, erhielt er seine Flug-Lizenz nur mit Sondergenehmigung wieder zurück
  • Seit Dezember 2014 litt Co-Pilot Andreas Lubitz unter Seh- und Schlafstörungen, konsultierte mehrere Ärzte, die allesamt keine organische Ursache für die Probleme finden konnten - was im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass die Beschwerden psychosomatisch verursacht worden sein mussten
  • Im Februar 2015 ging Andreas Lubitz gemeinsam mit seiner Mutter zu einem Psychologen. Er bekam in der Folge ein Antidepressivum verschrieben
  • Einen Tag später schrieb ihm sein Vater laut deutschen Medien eine Mail, in der Günter Lubitz seine Hoffnung ausdrückte, dass "alles wieder normal werden" möge
  • Zwei Wochen vor dem Crash wurden bei Andreas Lubitz eine psychosomatische Störung und eine Angststörung diagnostiziert - der Mediziner schrieb den Piloten krank, dieser gab die Krankmeldung jedoch nicht bei seinem Arbeitgeber ab und flog weiter
  • Auf dem Cockpit Voice Recorder des Unglücksfluges ist laut BEA klar zu hören, dass Kapitän Patrick S. mit Andreas Lubitz spricht und ihm mitteilt, das Cockpit für einen WC-Besuch zu verlassen. Sekunden später verlässt der Kommandant das Cockpit
  • Während sich der Kapitän außerhalb des Flugdecks aufhält, stellt Andreas Lubitz auf dem Bedienpanel des Autopiloten eine Flughöhe von 100 Fuß ein, der A320 beginnt zu sinken. - Als der Kapitän zurück ins Cockpit will, klingelt er an, Lubitz reagiert nicht. Patrick S. versucht, den Ersten Offizier via Intercom zu erreichen - keine Reaktion. S. hämmert gegen die Türe - wieder keine Reaktion von Lubitz
  • Auf dem Cockpit Voice Recorder sind Atemgeräusche von Lubitz zu hören und kurz vor dem Aufschlag erfolgt eine Steuereingabe am rechten Sidestick (Co-Pilotenseite), womit als gesichert gilt, dass Andreas Lubitz nicht bewusstlos war
  • Selbst Gutachter Tim van Beveren erklärte, dass er davon ausgehe, dass Andreas Lubitz zum Absturzzeitpunkt im Cockpit war und er (van Beveren) "kein alternatives Szenario" präsentieren könne

Die deutsche Bundesregierung erklärte gestern als Reaktion auf die Pressekonferenz von Günter Lubitz, dass es "keinen Grund für Zweifel an den Untersuchungen zum Absturz der Germanwings-Maschine vor zwei Jahren" gibt. Und auch bei der Pilotenvereinigung Cockpit sieht man das so. "Basis unserer Arbeit ist der offizielle Flugunfallbericht, daran hat sich nichts geändert", erklärte Sprecher Markus Wahl. Nach Durchsicht des Abschlussberichtes seien "bei unseren Experten bisher keine Fragezeichen geblieben".

Einmal mehr bestätigte am Freitag der Düsseldorfer Staatsanwalt Christoph Kumpa, dass Lubitz alles andere als (psychisch) gesund gewesen sei: "Er litt seit Monaten unter Schlaflosigkeit, hatte Angst um sein Augenlicht, war verzweifelt." Womit es auch exakt jenes handfeste Motiv für einen Suizid gibt, das Günter Lubitz und Tim van Beveren nicht erkannt haben wollen.

Was geschah wirklich?
Weder der Autor dieser Zeilen, noch Günter Lubitz, noch Tim van Beveren waren an Bord des Germanwings-Unglücksfluges. Niemand von uns kann also mit absoluter Sicherheit sagen, was an Bord in den letzten Augenblicken tatsächlich geschah. Das ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle involvierten Parteien einigen können.

Dennoch: Bei Betrachtung aller vorliegenden Informationen gibt es aus Sicht des Verfasser dieser Zeilen allerdings trotz der von Gutachter Tim van Beveren aufgezeigten mutmaßlichen Mängel (denen nun hoffentlich von offizieller Seite mit großer Sorgfalt nachgegangen wird) bei der Untersuchung nicht den geringsten Zweifel daran, dass sich der Absturz im Wesentlichen so zugetragen hat, wie im offiziellen Abschlussbericht dargestellt.

Oder ganz trivial ausgedrückt: Wenn sich zwei Personen im Cockpit befinden, der Kapitän das Flugdeck verlässt, der verbliebene Co-Pilot den Autopiloten auf eine unüblich niedrige Flughöhe programmiert und trotz des Umstandes, dass er ganz offensichtlich bei Bewusstsein ist, die Türe dann nicht wieder öffnet, als der Kapitän zurück ins Cockpit will, kann es nach menschlichem Ermessen gar nichts anders gewesen sein.

Denn (rein hypothetisch betrachtet) wie wahrscheinlich ist folgendes Szenario: Panel zum Öffnen der Cockpittüre defekt, bewusstloser Co-Pilot alleine im Cockpit und eine technische Störung am Autopiloten, die einen Sinkflug auf 100 Fuß einleitet.

Dieses Foto von Co-Pilot Andreas Lubitz wurde auf der Pressekonferenz gezeigt - Foto: Repro Austrian Wings Media Crew

Und das wäre aus Sicht des Verfassers dann auch schon die einzige Alternative zum Pilotenselbstmord, wenn man davon ausgeht, dass Andreas Lubitz zum Unglückszeitpunkt alleine im Cockpit war - was ja selbst Gutachter van Beveren annimmt. Die Wahrscheinlichkeit für diese Variante dürfte in etwa so gering sein wie jene, dass es zwei Menschen mit völlig identischer DNA gibt, nämlich gleich null.

Mit dem Undenkbaren abfinden
So schmerzhaft es für ihn auch sein mag - Günter Lubitz sollte die tragische Wahrheit, dass sein offensichtlich psychisch schwer kranker 27-jähriger Sohn Andreas an jenem 24. März 2015 - ungeachtet der juristischen Bewertung - de facto zum Massenmörder wurde, endlich akzeptieren. Denn nur dann wird es ihm gelingen, seinen inneren Frieden zu finden. Das ist ihm und der gesamten Familie Lubitz von ganzem Herzen zu wünschen.

Und schließlich wäre es Günter Lubitz auch den Angehörigen der 149 Menschen, die sein Sohn auf so brutale Art und Weise jäh aus dem Leben gerissen hat, schuldig, dass er mit abstrusen Spekulationen aufhört, damit die Hinterbliebenen ihren Verlust in Ruhe und Würde ungestört bewältigen können. Es ist an der Zeit.

(HP / Fotos, sofern nicht anders angegeben: Austrian Wings Media Crew)

Hinweis: „Punktlandungen” sind Kommentare einzelner Autoren, die nicht zwingend die Meinung der Austrian Wings-Redaktion wiedergeben.