Reportagen

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Ungeklärt: Der mysteriöse Todesflug vom Achensee

Die Unglücksmaschine, aufgenommen am 26. Februar 2011, rund einen Monat vor dem Absturz - Foto: Christian Schöpf

Der 30. März 2011 ging als schwarzer Tag in die Geschichte der österreichischen Flugpolizei ein. An diesem Tag stürzte ein EC 135 der fliegenden Ordnungshüter in den Achensee - vier Todesopfer waren zu beklagen. Die Ursache ist bis heute unklar, denn der im Vorjahr vom Verkehrsministerium veröffentlichte Abschlussbericht enthält zahlreiche Ungereimtheiten, Unwahrheiten und ist bedeutenden Fragen nicht nachgegangen. Er steht im krassen Widerspruch zu den Ergebnissen einer Unfalluntersuchung des BMI, die bereits 2013 veröffentlicht und von vielen Piloten als plausibel betrachtet wurden. Deshalb ermittelt mittlerweile eine neue unabhängige Expertenkommission. Austrian Wings zeichnet die Ereignisse des Unglücksfluges nach und beleuchtet in Zusammenarbeit mit erfahrenen Berufspiloten und Medizinern, weshalb die vom Verkehrsministerium behauptete Unfallursache "Pilotenfehler" kaum stimmen kann.

Der 30. März 2011 war ein Mittwoch und begann zunächst wie jeder andere Dienst für den Leiter der Flugeinsatzstelle (FEST) Innsbruck, Chefinspektor Markus Pumpernick, einen erfahrenen Piloten und fürsorglichen Familienvater. Kurz vor acht Uhr Früh traf der Flieger auf dem Stützpunkt ein und begann, sich gemeinsam mit seinem Flight Operator Revierinspektor Stephan Lechner auf den Dienst vorzubereiten. Neben dem Hubschrauberführer und dem Flight Operator waren an diesem Tag zwei weitere Beamte als Mitflieger eingeteilt: Chefinspektor Herbert Fürrutter vom Landespolizeikommando Tirol und als Gast Stefan Steiner, Angehöriger der Schweizer Grenzschutztruppe. Der Einsatzbefehl an diesem Tag sah einen Flug im Rahmen der „Ausgleichsmaßnahmen Schengen“, kurz AGM vor. Dabei sollte die Helikopter-Besatzung im Tiroler Hinterland verdächtige Beobachtungen aus der Luft an die Kollegen am Boden melden und diese heranführen. Der Schweizer Exekutivbeamte hätte dabei mit der österreichischen Methode vertraut gemacht werden sollen.

„Wenn Kontrollen an der Grenze oder in deren Nähe durchgeführt werden, spricht sich das bei Kriminellen natürlich schnell herum. Dann versuchen sie, auf andere Wege auszuweichen oder auf Parkplätzen das Ende des Einsatzes abzuwarten. Deshalb sind unsere fliegenden Kollegen hier eine große Unterstützung“, schildert ein Polizist gegenüber Austrian Wings.

Moderner Helikopter, erfahrener Pilot
Kurz nach neun Uhr Lokalzeit begaben sich die vier Beamten zu ihrem Einsatzgerät, einem 2008 gebauten EC 135 P2+ mit der Kennung OE-BXF. Der drei Jahre alte Helikopter hatte zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als 1.360 Flugstunden akkumuliert.

Chefinspektor Markus Pumpernick flog seit 1998 für die Flugpolizei; er hatte zum Unglückszeitpunkt 2527 Flugstunden und etwa 4800 Starts und Landungen in seinem Bordbuch stehen, galt damit als einer der erfahrensten Piloten des Innenministeriums; Freunde, Kollegen und Weggefährten beschreiben ihn ausnahmslos als besonnen und ausgesprochen verantwortungsbewusst - Foto: FEST Innsbruck

Gegen 09:10 begann Pilot Markus Pumpernick damit, die beiden Pratt & Whitney Canada PW206B2 Turbinen der „X-Ray Foxtrott“ anzulassen. Nachdem alle Parameter im grünen Bereich waren, hob der EC 135 um 09:15 Uhr ab und nahm zunächst Kurs auf die Franz Senn Hütte in den Stubaier Alpen, wo elf Minuten später eine Außenlandung erfolgte. Dort stieg ein als Alpinist und Flight Operator ausgebildeter Polizist zu. Zwei Minuten später, um 09:28 Uhr hob die Maschine wieder ab. Fünf von sechs vorhandenen Plätzen waren zu diesem Zeitpunkt besetzt. Um 09:52 führte Chefinspektor Pumpernick in Vorderthiersee-Breiten eine weitere Außenlandung durch, um den zuvor aufgenommenen Kollegen abzusetzen. Die Steuerführung sei "sehr professionell" gewesen, beschieden später sogar die Unfallermittler des Verkehrsministeriums (BMVIT). Zwei Minuten danach hob die „X-Ray Foxtrott“ zum letzten Mal ab und nahm Kurs auf den Achensee.

"Die wilde Fliegerei isch nix für mi. Des überlass' i anderen. I bleib' liaba gmiatlich 'straight and level'."
Markus Pumpernick 2007/2008
im Gespräch mit dem Autor

In der Nähe des Gewässers ging der Helikopter dann in einen Sinkflug über, wobei ein Kabinenquerlagewinkel von etwa 35 Grad und ein Kabinennickwinkel von -32 Grad erreicht wurden, wie die Ermittler später anhand an Bord vorhandener Datenaufzeichnungsgeräte auslesen konnten.

Auffällig war jedoch die enorme Sinkrate von bis zu 4.000 Fuß pro Minute, die – so bestätigten es mehrere Berufs- und Zivilpiloten übereinstimmend gegenüber dem Autor – völlig außerhalb der normalen Betriebsparameter lag und innerhalb von gerade einmal nur sechs Sekunden zustande kam. Um 10:07 Uhr kollidierte der Hubschrauber mit einer Geschwindigkeit von 134 Knoten und einer reduzierten Sinkrate von 1.000 Fuß pro Minute mit der Wasseroberfläche des Achensees.

"Ich kenne niemanden, der 4.000 Fuß Sinkrate im Hubschrauber absichtlich fliegt."
Ein ziviler Helikopter-Fluglehrer und
Berufspilot gegenüber dem Autor

Durch die Wucht des Aufpralls wurden der vordere Bereich des EC 135 unmittelbar zerstört und alle Insassen sofort getötet. Da der Unfall von mehreren Augenzeugen beobachtet wurde, dauerte es nur wenige Minuten bis bei den Einsatzkräften die ersten Notrufe eingingen. Obwohl dadurch binnen kürzester Zeit Helfer von Rettungsdienst, Wasserrettung, Polizei und Feuerwehr an der Unglücksstelle eintrafen, stand bald fest, dass sich die anfängliche Hoffnung auf Überlebende nicht erfüllen würde.

Fragwürdige Untersuchung des BMVIT
Neben der Bergung der vier Opfer legten die Ermittler den Fokus darauf, möglichst viele Wrackteile aus dem See bergen zu können. Die Unfallstelle lag im nördlichen Teil des Achensees. Das Hauptwrack wurde in einer Tiefe von 104 Meter mittels Sonartechnik geortet, mit einer Position unweit der Kollision mit der Wasseroberfläche. Mittels Sonar gelang es den Ermittlern auch, das Trümmerfeld weitgehend zu lokalisieren. Allerdings konnten keine Anzeigeinstrumente des Cockpits mehr aufgefunden werden, während das Overhead Panel lokalisiert und gefilmt wurde. Eine Bergung war angeblich nicht möglich, beschied das Verkehrsministerium, ohne allerdings Gründe dafür zu nennen. Das Hauptwrack bestand aus dem Mittelteil der Kabine und konnte gemeinsam mit Hauptgetriebe, Rotormast, beiden Triebwerken und den beiden hintersten Passagiersitzen geborgen werden. In weiterer Folge untersuchten sowohl Experten des Bundesministeriums für Inneres, dem die Flugpolizei untersteht, als auch Mitarbeiter der heute zum Verkehrsministerium gehörenden Sicherheitsuntersuchungsstelle des Bundes das Wrack sowie die gewonnenen Daten.

Nur der hintere Teil des Wracks konnte überhaupt geborgen werden

"Hellsichtige" zivile Ermittler?
Während bei der Untersuchung des Innenministeriums auch fachkundige Piloten hinzugezogen wurden, beschränkte sich die heute zum Verkehrsministerium gehörende zivile Kommission darauf, die Bewertung der Unglücks-Umstände von Technikern vornehmen zu lassen, wobei zumindest einer noch am Unglückstag vor Zeugen die Meinung vertrat, dass die Untersuchung ohnedies „Zeitverschwendung“ wäre, weil die Unglücksursache seiner Meinung nach bereits geklärt sei: „Cowboy-Fliegerei, ganz klar.“

Es war dies übrigens nicht das erste Mal, dass die Mitarbeiter der zivilen Flugunfalluntersuchungsstelle augenscheinlich von sich selbst annahmen, hellseherische Fähigkeiten zu haben. Bereits kurz nach dem Absturz von Johann Knaus am 17. November 1997 konstatierten derlei „Experten“ sehr rasch, dass die Unfallursache aus ihrer Sicht eine Kollision mit einer Materialseilbahn war – Pilotenfehler, also. Es war dem Einsatz von Johann Knaus' Sohn Roy zu verdanken, der unermüdlich weiter kämpfte, um die tatsächliche Unfallursache ans Licht zu bringen. Neun lange Jahre nach dem Unfall wurde Johann Knaus schließlich rehabilitiert. Das LG Feldkirch stellte fest, dass der Wartungsfehler einer Fremdfirma zum Absturz geführt hatte und für Johann Knaus keine Chance bestand, den Absturz zu verhindern.

"Das war ganz klar Cowboy-Fliegerei. Da ist jede weitere Untersuchung ohnedies nur die reinste Zeitverschwendung."
Vorverurteilung des getöteten Polizei-Piloten vor Zeugen durch einen
Ermittler der zivilen Untersuchungskommission am Unglückstag 2011

2013 veröffentlichte das Innenministerium schließlich seine Erkenntnisse zum Achensee-Crash, die ernüchternd waren. Die Absturzursache könne nicht geklärt werden, hieß es. In Frage kämen neben Vogelschlag etwa Flicker Vertigo oder eine akute „gravierende Gesundheitsbeeinträchtigung“ des Piloten.

Dem widersprach allerdings das Verkehrsministerium in seinem 2019 – also acht Jahre nach dem Absturz – veröffentlichten Bericht. Die Techniker ohne Hubschrauberpilotenausbildung des Verkehrsministeriums sind nämlich der Ansicht, dass der Absturz auf einen Pilotenfehler zurückzuführen war. Allerdings ist der Bericht nach Ansicht von Fachleuten gespickt mit Fehlern, Ungereimtheiten und offenen Fragen, denen man – aus Bequemlichkeit, weil sie ein womöglich vorgefertigtes Szenario ad absurdum geführt hätten? – gar nicht erst nachgegangen war.

So verzichteten die Ermittler beispielsweise darauf, den von ihnen dargestellten Flugverlauf und die abnormal hohe Sinkrate von 4.000 bis 5.000 Fuß pro Minute der OE-BXF – in sicherer Flughöhe mit zwei Piloten am Doppelsteuer – nachzufliegen, obwohl ihnen das seitens des Innenministeriums aktiv angeboten wurde. „Dann hätten sie nämlich sicherlich erkannt, was das eigentlich bedeutet und wären kaum zu dem Schluss gekommen, dass diese Sinkrate absichtlich geflogen wurde“, so ein Pilot der Flugpolizei im Gespräch mit dem Autor.

"Meiner Meinung nach ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit diese Sinkraten absichtlich zu produzieren. Auch mit Pedalinput im Autorotationsflug sind solche Flugbewegungen nicht möglich. Ich vermute, dass nicht alle Aspekte diese tragischen Vorfalles korrekt betrachtet wurden, warum auch immer."
Ein ziviler EC-135-Einsatzpilot gegenüber Austrian Wings

Der Bericht des Verkehrsministeriums stößt daher bei vielen Berufspiloten – inner- und außerhalb der Flugpolizei – wegen seiner fachlichen und qualitativen Mängel auf breite Ablehnung. Auch im Innenministerium wird das Papier des Verkehrsministeriums scharf kritisiert, weshalb, wie berichtet, bereits die Gründung einer neuen unabhängigen mit internationalen Experten besetzt sein wird, angekündigt wurde.

Übereinstimmung zwischen Innenministerium und Verkehrsministerium herrscht weitgehend darin, dass ein technisches Problem als Absturzursache ausgeschlossen werden kann. Denn weder in der Dokumentation noch an den untersuchten geborgenen Wrackteilen konnten unfallkausale technische Mängel gefunden werden. Gleichwohl muss eingeschränkt werden, dass ein großer Teil des Helikopters inklusive des Hauptinstrumentenbrettes und der Steuerorgane (Stick, Kollektivverstellhebel) niemals geborgen wurde. Trotzdem erscheint auch für von Austrian Wings konsultierte Piloten und Techniker die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden technischen Problems, das zum Absturz geführt hat, schon rein statistisch sehr unwahrscheinlich, zumal der EC 135 als sicheres Fluggerät mit redundanten Systemen gilt.

Ein Vogelschlag, der in weiterer Folge den Piloten oder die Steuerung zumindest temporär beeinträchtigt haben könnte, wird vom Verkehrsministerium ebenso kategorisch ausgeschlossen – obwohl der gesamte vordere Bereich des Hubschraubers niemals geborgen wurde. Für Piloten und auch Insider im BMI ist die Vogelschlagtheorie dagegen keineswegs völlig vom Tisch: Denn da große Teile des Helikopters gar nicht untersucht werden konnten, sei es auch nicht legitim, diese Möglichkeit derart kategorisch auszuschließen, wie es das Verkehrsministerium tut. Gleichwohl kann als gesichert gelten, dass ein allfälliger Vogelschlag keine körperlichen Verletzungen beim Piloten verursacht hat, denn solche wurden im Rahmen der Obduktion nicht festgestellt. Überhaupt kamen die Experten der Gerichtsmedizin Innsbruck zu der Einschätzung, dass Markus Pumpernick an keinen (feststellbaren) gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder vor dem Unfall bestehenden Verletzungen gelitten habe. Auf Basis dieses Befundes kamen die nicht als Hubschrauberpiloten ausgebildeten Techniker des Verkehrsministeriums schließlich zu der fragwürdigen Annahme, dass der Sinkflug von 4.000 Fuß pro Minute bewusst und willentlich vom Piloten gesteuert worden sei. Einer der dem Autor namentlich bekannten externen Sachverständigen, dessen Identität zu nennen sich das Verkehrsministerium - entgegen internationalen Gepflogenheiten - übrigens weigert, scheint in der Sachverständigenliste lediglich als "Flugzeugtechniker" auf. Eine Qualifikation als Hubschrauberpilot, geschweige denn eine Einsatzpilotenausbildung des BMI, hat er allerdings nicht. Trotzdem maßt er sich als Techniker ohne Flugausbildung an, dem verunglückten Piloten Handlungen zu unterstellen und diese zu bewerten.

"Ich habe einmal 2.700 Fuß Sinkrate in einem Hubschrauber erlebt, das hat mir schon gereicht. 4.000 Fuß würde ich nie 'just for fun' fliegen."
Ein ziviler Berufspilot gegenüber dem Autor

Gesundheitliche Probleme des Piloten als mögliche Ursache
Doch nach Ansicht vieler Piloten und auch Menschen, die Markus Pumpernick kannten, ist dieser Rückschluss in einer solchen Klarheit nicht zulässig. Denn einerseits spricht schon der Umstand, dass ausnahmslos alle vom Autor konsultieren Hubschrauberpiloten die Frage, ob sie einen derartigen Sturzflug (4.000 Fuß pro Minute entsprechen 20 Meter pro Sekunde, das ist mehr als das doppelte der Beschleunigungsgeschwindigkeit im freien Fall von 9,81 Meter pro Sekunde!) jemals bewusst einleiten würden, kopfschüttelnd verneinten, dafür, dass dieses Manöver eben nicht willentlich von Chefinspektor Pumpernick geflogen wurde. Andererseits haben die Ermittler des Verkehrsministeriums auch die Persönlichkeit des verunglückten Hubschrauberführers völlig außer Acht gelassen. Sämtliche Kollegen (Piloten und Flugretter) bescheinigten ihm – auch in einer anonymisierten Umfrage – ein verantwortungsbewusstes Verhalten, Markus Pumpernick habe in seiner ganzen Laufbahn nie zu risikoreichen Flugmanövern geneigt.

"Beim Piloten handelte es sich um einen überaus umsichtigen Piloten. Dies ergab auch die anonymisierte Umfrage bei den Flight-Operatoren. Sein Einsatz- und Flugverhalten wird von allen Beteiligten als überaus korrekt und verantwortungsbewusst eingestuft.“
Stellungnahme der Flugpolizei vom 27. April 2012 zum Unfall

"Der Markus war einer der defensivsten Piloten überhaupt."
Ein BMI-Flight Operator
zu Austrian Wings

Während bei Piloten also schon hier alle Alarmglocken schrillen und sie davon ausgehen, dass ihr Flugpolizei-Kollege in der „X-Ray Foxtrott“ wohl an einer akut aufgetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigung gelitten hat, sahen die Techniker des Verkehrsministeriums keinerlei Bedarf, genauer nachzuforschen. Auch der Umstand, dass es eine Vielzahl an Möglichkeiten unerwarteter gesundheitlicher Probleme, die bei einer Autopsie nicht nachweisbar sind, gibt, scheint für das Verkehrsministerium – dessen Vertreter ja bereits am Unglückstag von „Cowboy-Fliegerei“ sprach – uninteressant zu sein.

"In all den Jahren, in denen ich mit Chefinspektor Pumpernick geflogen bin, gab es kein einziges Manöver, bei dem ich mich nicht sicher gefühlt habe. Er war ein ausgesprochen vorsichtiger Pilot, der seine Grenzen ganz genau kannte und zu keinem Zeitpunkt dazu neigte, sie zu überschreiten."
Ein anderer Flight Operator gegenüber dem Autor

Professor Günter Steurer von der Medizinischen Universität Wien bestätigte auf Anfrage des Autors, dass etwa Herzrhythmusstörungen, Schwindelgefühl oder Kreislaufprobleme dazu geführt haben könnten, dass der Pilot – bei vollem Bewusstsein – seiner uneingeschränkten Handlungsfähigkeit beraubt wurde.

"Es gibt etliche medizinische Probleme, die akut auftreten können und im Rahmen einer gerichtsmedizinischen Untersuchung nicht nachweisbar sind."
Professor Dr. med. Günter Steurer
Internist, Kardiologe und
flugmedizinischer Sachverständiger

 

Ein unterschätztes Problem?
Denkbar wäre ebenfalls das Auftreten einer  „Flicker Vertigo“ genannten Desorientierung, eine Art Stroboskop-Effekt, der bei einfallender Sonne durch die Rotorblätter ausgelöst werden kann. Während die Techniker des Verkehrsministeriums davon ausgehen, dass die damit verbundene kritische Frequenz ausschließlich zwischen 4 und 20 Hertz liegt, wohingegen der Hubschrauber vom Typ EC 135 eine Rotorfrequenz von 26,5 Hertz aufweise, belegt ein Dokument der US-amerikanischen Flight Safety Foundation, dass der fraglich bedenkliche Bereich (auch) zwischen 25 und 55 Hertz liegt und zudem bei jedem Piloten individuell anders ausfallen kann. Obgleich also in der Praxis selten, ließe sich dieses Phänomen der Pilotenbeeinträchtigung auch beim EC 135 nicht vollständig ausschließen – und im Zuge einer Obduktion nicht nachweisen. Diese Möglichkeit wurde ebenfalls von Professor Steurer bestätigt. Der Pilot hatte zum Absturzzeitpunkt zudem nur das helle der beiden Visiere seines Helms heruntergeklappt, wobei lediglich das zweite, dunkle Visier, einen entsprechend effektiven visuellen Schutz vor Flicker Vertigo geboten hätte.

Screenshot des Berichts des Verkehrsministeriums mit lückenhaften Angaben zur kritischen Frequenz und daraus resultierenden völlig fehlerhaften Schlussfolgerungen zur Problematik von Flicker Vertigo

Auch, wenn Flicker Vertigo verhältnismäßig selten ist, so kommt es doch regelmäßig vor. Bereits im Jahr 2004 berichtete ein früheres Besatzungsmitglied eines australischen Rettungshubschraubers in einer Diskussion zum Thema von einem solchen Vorfall:

"Es war im Jahr 1988. Ich war damals Crewmember auf einem Bell 412 und wir führten gerade eine Windenbergung durch. Dazu schwebten wir in 90 Fuß Höhe. Plötzlich schien der Kapitän die Kontrolle teilweise zu verlieren. Der Helikopter flog nach links, dann nach rechts, stieg, danach sank er wieder. Gleichzeitig reagierte der Pilot überhaupt nicht auf Ansprache. Der Co-Pilot übernahm schließlich das Steuer und stabilisierte den Hubschrauber in einer Höhe von 20 Fuß."

Später habe sich herausgestellt, dass der zu diesem Zeitpunkt als Pilot Flying agierende Kommandant Opfer von Flicker Vertigo geworden war. Er habe außerdem bereits zuvor während seiner Dienstzeit bei der australischen Luftwaffe einmal einen derartigen Zwischenfall erlebt. Wie dieser Rettungseinsatz ausgehen hätte können, wenn kein zweiter Pilot an Bord gewesen wäre, kann man sich leicht ausmalen. Die Obduktion des Piloten hätte wohl in diesem Fall ebenfalls keine gesundheitlichen Probleme nachweisen können.

Ein anderer Helikopterpilot erzählte von einem Flicker Vertigo-Vorfall auf einem H13 (Bell 47):

"Ich schwebte über einem NDB und bemerkte jede Menge Flicker auf dem Instrumentenbrett. Plötzlich verlor ich derart die Orientierung, dass ich Schwierigkeiten hatte, den Helikopter zu kontrollieren."

Diese beiden Beispiele zeigen eindrucksvoll, dass die von Flicker Vertigo betroffenen Hubschrauberpiloten zwar physisch bei Bewusstsein waren, die Steuerorgane (Cyclic Stick/Steuerknüppel und Collective Control) weiter fest in den Händen hielten und dennoch aufgrund ihrer Beeinträchtigung zumindest temporär keinen kontrollierten Flugverlauf mehr sicherstellen konnten.

Im Jahr 2012 veröffentlichte das „Air Medical Journal“ einen Bericht zu dieser Problematik mit dem Titel „Unknown, Unrecognized, and Underreported: Flicker Vertigo in Helicopter Emergency Medical Services“ und beschrieb darin den Fall einer „Flight Nurse“, die an Bord eines EC 145 (das größere Schwestermodell des EC 135) Opfer von Flicker Vertigo geworden war. Eine entsprechende Dunkelziffer kann daher nicht ausgeschlossen werden.

Und im April 2019 berichtete das Portal „flightsafetyaustralia.com“ über die Gefahr von Flicker Vertigo bei der Operation von Helikoptern und wies darauf hin, dass schon in den 1950er-Jahren mehrere Unfälle mit diesem Phänomen in Verbindung gebracht wurden.

Obwohl die Gurte von drei der vier Insassen beim Aufprall geschlossen waren, behauptet das Verkehrsministerium in seinem Bericht tatsachenwidrig, dass alle vier Gurte geöffnet vorgefunden worden seien

Noch in der Luft abgeschnallt
Und dann wäre da noch ein ausgesprochen gewichtiges Indiz, das die Ermittler des Verkehrsministeriums nicht einmal für erwähnenswert befinden: Von den vier Insassen im Helikopter war jener österreichische Polizist, der Rücken an Rücken mit dem Piloten saß, bereits vor dem Aufprall abgeschnallt. Seine Leiche wurde als einzige ohne Sitz im Wasser gefunden, 80 Meter vom Hauptwrack entfernt. Und das Gurtsystem des Platzes, auf dem der Beamte saß, war geöffnet. Gleichzeitig stellten die Techniker des BMVIT  fest, dass sämtliche Gurte voll funktionisfähig waren. Folglich muss sich der Beamte noch in der Luft, vor dem Absturz, durch aktives Handeln selbst abgeschnallt haben – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, insbesondere bei einem Sturzflug mit starken Kabinenneigungswinkeln.

"An Gurtbändern und Gurtschloss waren keine sichtbaren Schäden oder Beeinträchtigung der Funktion feststellbar."
Das Verkehrsministerium

In jeder seriösen Unfallermittlung wird der Zustand der Sitze und die Position der Crewmitglieder beim Aufprall genauestens beschrieben. So steht etwa im Abschlussbericht zum Absturz von Flug SR 111 zu lesen, dass der Sitz des Kapitäns zum Zeitpunkt des Aufpralls mit geöffnetem Gurtsystem in zurückgefahrener Stellung war, während sich der Sitz des Ersten Offiziers in „normaler Flugposition“ mit geschlossenem Gurtsystem befand.

"Natürlich kann man bei einer Obduktion viele Dinge überhaupt nicht feststellen. Gerichtsmediziner geben das aber nicht so gerne zu."
Ein Internist gegenüber dem Autor

Anstatt ebenso präzise zu arbeiten, ist es für die Untersucher des Verkehrsministeriums offenbar überhaupt nicht von Relevanz, dass sich der Polizist hinter dem Piloten während eines absolut außerhalb der normalen Parameter liegenden Sturzfluges mit einer Sinkrate von 20 Metern in der Sekunde noch in der Luft abgeschnallt hatte. Mit keiner Zeile versuchen sie, diesen alarmierenden Umstand investigativ zu hinterfragen, für den erfahrene Piloten nur eine Erklärung haben: „Die einzige Situation, die ich mir vorstellen kann, ist, dass mit dem Mann rechts vorne (Pilotensitz, Anm. d. Red.) etwas nicht in Ordnung war und der links vorne sitzende Flight Operator (beim linken Sitz sind Steuerknüppel und der kollektive Blattverstellhebel ausgebaut, Anm. d. Red.) in seiner Verzweiflung den Kollegen hinten via Intercom um Hilfe gebeten hat“, so ein ziviler EC 135-Pilot gegenüber dem Autor.

"Wenn sich ein Crewmitglied offensichtlich vor dem Aufprall abschnallt, dann kann man das nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen, wie das die zivile Kommission offenbar getan hat. Diesem Umstand gehört in jedem Fall nachgegangen. Alles andere mutet zumindest inkompetent an."
Ein ziviler Berufspilot zum Autor

Diese Vermutung haben auch etliche Kollegen innerhalb der Flugpolizei, ihnen ist es jedoch nicht gestattet, sich zu dieser Causa zu äußern. Flugpolizei-Chef Werner Senn, selbst aktiver Einsatzpilot und studierter Jurist, bat um Verständnis, dass er derzeit kein Statement zu dem Fall abgeben könne: „Die diesbezügliche Öffentlichkeitsarbeit läuft ausschließlich über die Pressestelle des Innenministeriums. Bitte nehmen Sie mit den Kollegen direkt Kontakt auf.“ Dort bestätigt man die neuen Ermittlungen, möchte sich allerdings nicht weiter äußern, um allfälligen Ergebnissen der unabhängigen Kommission nicht vorzugreifen, wie es heißt.

"Der Markus war in seiner ganzen Karriere absolut kein Draufgänger. Nie im Leben wäre er absichtlich derart wild geflogen und schon gar nicht mit drei anderen Personen an Bord."
Ein Pilotenkollege gegenüber dem Autor

Wenngleich also viele Indizien auf ein akutes gesundheitliches Problem des Piloten hinweisen, in dessen Folge Chefinspektor Pumpernick nicht mehr in der Lage war, den Flugweg seines EC 135 in vollem Bewusstsein zu kontrollieren, so wird wohl auch die neue vom Innenministerium eingesetzte Kommission keine abschließende Klärung des Unglücks vornehmen können. Denn ein Cockpit Voice Recorder oder eine Kamera waren weder vorgeschrieben, noch im Cockpit installiert.

Aber vor dem Hintergrund der zahlreichen augenscheinlichen Schlampereien, Ungereimtheiten (falsche Himmelsrichtungen, falsche Ortsnamen, falsche Uhrzeiten, sich widersprechende Angaben, gravierende Fehler in der Visualisierung des animierten Videos, das den Unglücksflug darstellen soll ...) und offenen Fragen, denen das Verkehrsministerium in seinem Bericht schlichtweg nicht nachgegangen ist, kann keinesfalls dem schwächsten Glied in der Kette – dem toten Piloten – die alleinige Verantwortung für den Absturz, der vier Menschen das Leben gekostet hat, zugeschrieben werden – zumal die nun im Verkehrsministerium angesiedelte Stelle für Flugunfalluntersuchungen ohnedies nicht gerade gut beleumundet ist (Unfallberichte sind, obwohl die ICAO eine Veröffentlichung innerhalb eines Jahres fordert, oft selbst nach vielen Jahren noch nicht fertiggestellt) und wegen diverser Skandale vor bald drei Jahren aufgelöst und neu strukturiert wurde.

Es erscheint also nicht unwahrscheinlich, dass die neu eingesetzte Expertenkommission zu den gleichen oder zumindest ähnlichen Schlüssen kommt, wie schon das Innenministerium im Jahr 2013.

Nahe der Unglücksstelle erinnert eine Gedenktafel an jene vier Exekutivbeamten die in ihrer Erfüllung ihrer Pflicht bei dem bis heute ungeklärten Absturz den Tod fanden - Foto: Christian Schöpf

Doch was auch immer die unabhängigen Experten am Ende des Tages herausfinden: Sowohl die vier Opfer dieses schicksalhaften Tages als auch ihre Hinterbliebenen hätten sich nach so langer Zeit endlich einen professionellen, ausschließlich auf beweisbaren Tatsachen fußenden Unfallbericht verdient, damit sie mit dieser Tragödie endlich abschließen können.

Der Autor dankt all jenen Piloten und Medizinern, die ihn bei seinen Recherchen zu diesem Beitrag unterstützt haben. Besonderer Dank gilt den langjährigen Weggefährten von Markus Pumpernick, die sich gerne namentlich geäußert hätten, dies jedoch aus beruflichen Gründen nicht tun konnten.

Text: HP
Fotos (sofern nicht anders angegeben): SUB